Robert Macfarlane

Im Unterland

Ausgabe: 2020 | 1
Im Unterland

Robert Macfarlane ist ein ehemaliger Extrembergsteiger, der bereits mehrere Aufsehen erregende Reiseberichte verfasst hat. Auch sein aktuelles, sehr umfassendes Buch ist eine Reportage über Reisen zu höchst ungewöhnlichen Orten, die eines eint: Sie befinden sich unter der Erde. Dieses „Unterland“ ist unseren Augen naturgemäß verborgen, hat aber seit Menschengedenken drei wichtige Aufgaben erfüllt: „Es soll Kostbares schützen, Wertvolles hervorbringen, Schädliches entsorgen.“ (S. 16) Die Reise, die der Autor mit seinen LeserInnen gemeinsam unternimmt, ist zutiefst emotional, poetisch, philosophisch und gleichzeitig voll mit faszinierenden wissenschaftlichen Fakten: über versunkene Kulturen und ihre Begräbnisriten, über die harte Arbeit von Bergleuten und mysteriöse Ökosysteme unter der Erde, über geologische Wunder wie unterirdische Flüsse und gigantische Höhlensysteme, über den Versuch, die kostbaren Hinterlassenschaften unserer Zivilisation haltbar zu machen oder ihre schrecklichsten Überbleibsel für immer zu vergraben.

Das Buch beginnt mit einem mentalen „Abstieg“ ins Unterland – eine Auseinandersetzung mit dem Unsichtbaren, mit der Dunkelheit, mit der Abneigung, welche die Tiefe in uns hervorruft. Gleichzeitig ist das „Unterland“ ewiges Faszinosum und auch ein Ort von Spiritualität: Dies wird vor allem an den Begräbnisritualen ersichtlich, die sich seit Jahrtausenden durch viele Kulturen ziehen: „Etwas zu begraben heißt, es zu bewahren – als Erinnerung, als Materie – denn im Unterland verhält sich die Zeit anders, kann sie sich verlangsamen oder gar stehenbleiben.“ (S. 44) Aufwändige Grabstätten, Grabbeigaben, Höhlenmalereien aus prähistorischen Zeiten, all das verweist auf die tiefe Sehnsucht des Menschen, Beständigkeit im Schutz der Erde zu schaffen. Jedoch hinterlassen wir selbst im Unterland verheerende Spuren über unsere Existenz hinaus, in einem Ausmaß, welches das neue Erdzeitalter des Anthropozäns einläutete. Das grundlegende Problem hinter den Hinterlassenschaften des Menschen ist, dass die Zukunft für uns alle nicht fassbar ist: „Wir als Spezies haben uns als gute Historiker, aber als schlechte Futurologen erwiesen.“ (S. 97) Die Auswirkungen unseres Handelns für künftige Generationen bleiben abstrakt, was das Durchbrechen von Handlungsmustern erschwert.

Spannend sind die wissenschaftlichen Exkursionen, die das Buch vorstellt, etwa wenn es um Unterbodenökologie geht. Hier tut sich eine faszinierende Welt auf: Tatsächlich stehen Bäume untereinander nicht in Konkurrenz, wie lange in einer sehr westlichen Sichtweise gemutmaßt wurde, sondern sind durch ein unterirdisches Pilznetzwerk miteinander verbunden, welches den Austausch von Nähr- und Immunbotenstoffen begünstigt – der Waldboden als „sozialer Raum voller Leben“ (Anna Tsing in Macfarlane, S. 119f.); eine junge wissenschaftliche Erkenntnis, die den Wald als komplexen lebenden Organismus zeichnet. Ähnlich die „sternenlosen Flüsse“ der italienischen und slowenischen Karstlandschaften: riesige, zum Großteil noch unerforschte Höhlensysteme, eingebettet in einer dramatischen Landschaft, in der der Mensch seine bedrückendsten Spuren hinterlassen hat: Schützengräben, Bunker, Schluchten und Dolinen, die als Hinrichtungsstätten missbraucht wurden – eine Landschaft, die trotz ihrer Schönheit die grausamste Seite des Menschen ständig präsent hält und entsprechend politisiert wird.

Eine ganz andere Seite präsentiert Macfarlane, wenn er das Unterland als Raum für Rückzug vorstellt – tote U-Bahnhöfe, Kanäle und Katakomben sind Orte von Subkulturen, die mit einer erfrischenden Mischung aus Neugier und Abenteuerlust die „Unterstädte“ der Welt erkunden. Ein besonderes Beispiel sind die Katakomben von Paris, die von einer kreativen Szene (illegalerweise) bevölkert werden, die sich dort selbstverwaltete Freiräume schafft.

Ein großer Teil des Buches ist dem hohen Norden gewidmet: Der Autor besucht die „Roten Tänzer“, prähistorische Malereien in einer Meereshöhle auf den Lofoten. Er kämpft sich durch Schneestürme, zerklüftete Felsen, die einsame Landschaft bis zu den Höhlen, um dann in einem merkwürdigen Moment einen Strand voll mit Plastikmüll zu finden, angespült von den Wellen des Nordmeers. In diesem Moment wird die Bandbreite der menschlichen Existenz deutlich vor Augen geführt: die menschliche Gabe, Schönes selbst im unwirtlichsten Gebiet zu schaffen und dafür große Opfer zu bringen, sowie die Zerstörung der eigenen Lebenswelt aus Unachtsamkeit und Gier. Ähnliches gilt für Macfarlanes Besuch auf der norwegischen Insel Andǿya, wo er Zeuge eines Kampfs gegen die Bestrebungen wird, nach Öl im Meer zu suchen: Die Schätze des Unterlands bringen Wohlstand und gefährden gleichzeitig althergebrachte Lebensweisen und die empfindlichen natürlichen Kreisläufe in der Region. Dies betrifft auch Grönland, dem Macfarlane einen ausführlichen Besuch abstattet: Das Abschmelzen des Eises bringt Bodenschätze ungeahnten Ausmaßes an die Oberfläche und zerstört gleichzeitig das sensible Ökosystem der Insel – und mit ihm die Reste der alten Lebensweise der Inuit.

Das Buch schließt mit der schwierigsten Hinterlassenschaft des Anthropozäns, den unterirdischen Lagerstätten für Atommüll. Nicht nur die gigantischen Baumaßnahmen, die ein für die Ewigkeit gebautes Versteck unter der Erde schaffen sollen, sondern auch die geschilderten Begleitumstände bedrücken: IngenieurInnen, die sich überlegen, wie die Endlagerung auch in 10 000 Jahren garantiert sicher ist. WissenschaftlerInnen – aus den Bereichen Anthropologie, Soziologie, Linguistik, Geschichte – überlegen gemeinsam, wie man künftige Generationen davor warnen kann, jemals diese atomaren Grabstätten zu öffnen, selbst nach Zivilisationsbrüchen, die angesichts der Halbwertszeit des verscharrten Materials höchst wahrscheinlich sind. Bang stellt Macfarlane die Frage: „Welches Erbe hinterlassen wir den nach uns kommenden Generationen, aber auch den nach uns kommenden Zeitaltern und Spezies? Sind wir gute Vorfahren …?“ (S. 473)

An all den Orten, die der Autor besucht, wird uns eine Begleitperson vorgestellt: Menschen, die sich für den Schutz von Landschaften, Tieren, der Biosphäre, aber auch für Subkulturen und das historische Erbe der Menschheit einsetzen und dabei oft harte Kämpfe ausfechten. Hier wird noch einmal ganz klar, dass im Anthropozän Mensch, Kultur und Natur einander formen – im Guten wie im Schlechten.

„Im Unterland“ ist eine bedrückend schöne Reise, welche uns die verborgenen Schätze der Erde vor Augen führt, ihre Verletzlichkeit, und was es für die Welt und damit uns alle bedeutet, dass Menschen Erdzeitgestalter wurden. Eine Reise, die uns lernen und fürchten lässt.