Geplünderte Demokratie

Online Special

Die Demokratie gerät zunehmend unter Druck und die Unzufriedenheit unter der Bevölkerung wächst. Allein der große Umbruch will und will nicht kommen. Oder stehen wir doch am Vorabend gravierender Umwälzungen? Was läuft schief in den Demokratien Europas? 

Die Beschreibung des demokratischen Systems der westlichen Welt beginnt Thomas Rietzschel wahrlich fulminant: „Etwas ist faul im freien Europa. Munter wird mit der Demokratie Schindluder getrieben; politisch angeschlagen taumelt der Westen. Schwindler und Wortbrüchige, Versager und Aufschneider, schlichte Dummköpfe und verschlagene Zyniker, Verklemmte und Gehemmte haben die Politik zu ihrer Sache gemacht. Das Staatstheater, an dem sie dilettieren, soll ihnen die Welt bedeuten. Herrschaftlich herausgeputzt, behaupten sie ihre geliehene Herrschaft in der Stunde der Gaukler.“ (S. 7)

Der Autor war viele Jahre Kulturkorrespondent der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und wechselt nun sozusagen ins politische Fach. Er diagnostiziert den unmittelbar bevorstehenden Verfall der Demokratie. Politik sei zu einem widerwärtigen Kuhhandel verkommen, Wähler werden mit Geld bestochen, das niemand hat in einer unendlichen Kette an Gipfel-Treffen zwischen Brüssel, Berlin und Davos. All das ist „großes Theater in bombastischer Kulisse, bildmächtig einschüchternd, medial aufgepeppt und zum Erbarmen inhaltsleer“ (S. 8). Denn wer wollte ernsthaft behaupten, dass bei der so ehrgeizig betriebenen Euro-Politik bisher mehr herausgekommen ist als ein finanzpolitisches Desaster, „verbunden mit einer politischen Pleite, die die Länder gegeneinander aufbringt?“ (S. 13)

 

Bei all der harschen Kritik geht es Rietzschel aber immer um die Frage nach dem Fortbestand unserer Demokratie, einer Demokratie, die das politische Erbe Europas ist, „an dem sich die freie Welt weiterhin ein Beispiel nehmen wird, ungeachtet aller kulturellen Besonderheiten anderer Erdteile“ (S. 17). Wir müssten aber nicht zusehen, wie uns die Demokratie unter den Händen wegstirbt, so die Diagnose, „zumal sich die Anzeichen dafür mehren, dass es der Bürger leid ist, sich an der Nase herumführen zu lassen“ (S. 20). Wir kennen die Slogans vom Wut-, Mut- und Mitmachbürger, die es letztendlich wieder richten sollen. Ganz so einfach ist die Sache allerdings denn Schuld am Niedergang der Demokratie ist nicht nur die Politik, sondern auch wir Wähler haben eine gewisse Mitschuld an der Verwahrlosung der demokratischen Kultur. Als Konsum-Bürger in einer materialistischen Wohlstandsgesellschaft, die den Sehnsüchten und den Hedonismus der Boulevardgesellschaft nacheifert, gehe das Interesse am Politestablishment verloren. So folgt „aus den Daten, die die Forscher (der Abteilung „Demokratie“ am WZB) zusammengetragen haben, dass dem etablierten Politikbetrieb die Bedeutung, die er sich anmaßt, schon lange nicht mehr zukommt.“ (S. 157). Immer mehr Menschen wollen Politik mitgestalten, wollen Verantwortung in der Gemeinschaft übernehmen. Und Rietzschel erinnert an die Aufstände der „Selbsthelfer gegen die politische Entmündigung durch das Kartell der Parteien“. „Gleich, ob sie gegen eine neue Landebahn, gegen einen überteuerten Bahnhof, eine unsinnige Schulreform oder für den Schutz der Natur, für ein besseres Bildungsangebot demonstrieren, immer verlangen sie ein Mitspracherecht bei dem, was sie angeht.“ (beide Zitate. S. 163)

Was immer „wehrhafte Demokratie“ heißen mag, der Autor hofft, dass alles besser wird, wenn sich die Bürger darauf besinnen. Solange die Politiker den Bürgern, auf die sie sich berufen, nicht über den Weg trauen (vgl. S. 185), werden sie weiter Angst vor dem Bürger haben. Rietzschel hat nicht ganz Unrecht, wenn er fordert, nicht über die Postdemokratie nachzudenken, „sondern über das, was nach der Konsumgesellschaft kommt, was es zu bewahren und was es zu überwinden gilt“ (S. 188). Auch wenn man nach der Lektüre glaubt, dass der „Untergang des Abendlandes“ unmittelbar bevorsteht und der Autor zuweilen starke Worte wählt, ist seiner Analyse im Großen und Ganzen zuzustimmen. Etwas langweilig kommt hingegen der Hilferuf an die Bürger, bei deren Einflussmöglichkeiten es in der Realität ganz und gar nicht rosig aussieht (siehe Kapitel „Partizipation“). Zugegeben, einiges gelingt auch, aber es bedarf meiner Ansicht nach einer gänzlich neuen politischen Kultur, damit sich vieles ändert. Alfred Auer

 

Rietzschel, Thomas: Geplünderte Demokratie. Die Geschäfte des politischen Kartells. Wien: Zsolnay, 2014. 188 S., € 16,90 [D], 17,30 [A]

ISBN 978-3-55205-675-6

 

 

ZITAT

„Die politische Klasse hat sich zur Kaste gewandelt. Mehr denn je agiert sie über die Köpfe der Bürger hinweg. Als solche werden wir nicht einmal mehr rhetorisch wahrgenommen. Für die Politik sind wir nur noch Gattungswesen, „die Menschen“, Schutzbefohlene bestenfalls, schlimmstenfalls aufmüpfige ‚Wutbürger‘, die es zur Ordnung zu rufen gilt.“ (S. 43)

 

„Die Idee, das Wachstum, das sich auf anderen Kontinenten von selbst, aus den Verhältnissen heraus ergibt, künstlich zu erzeugen, ist nicht nur absurd, sie ist gefährlich. In diesem Wettkampf könnten wir nur bestehen, wenn wir Katastrophen heraufbeschwören würden, die uns selbst zwängen, wieder ganz von vorn anzufangen.“ (S. 188)