Gegen Wahlen

Ausgabe: 2017 | 3
Gegen Wahlen

David Van ReybrouckBekanntermaßen gehen immer weniger Menschen wählen, die Mitgliederzahlen der politischen Parteien und das Vertrauen der Bevölkerung in Repräsentanten des tradierten Systems sinken. Es ist also, so ein verbreiteter Tenor, um die parlamentarisch-repräsentative Demokratie schlecht bestellt. Vor allem Wahlen, die Säulen der demokratischen Verfasstheit, werden mehr und mehr in Frage gestellt. Zunehmend werden sie als eine der Hauptursachen der Krise verortet. Nach Ansicht des belgischen Historikers und Ethnologen David Van Reybrouck sind wir dabei „unsere Demokratie kaputt zu machen, indem wir sie auf Wahlen beschränken, und das, obwohl Wahlen nie als demokratisches Instrument gedacht waren“ (S. 169). Deshalb will er Bürger wieder zu mehr politischer Teilnahme verpflichten. Im historischen Exkurs zeigt der Autor, dass Demokratie im Laufe ihrer Entwicklung ganz andere und überaus erfolgreiche Verfahren der politischen Teilhabe kannte. Zunächst aber widmet er sich der Analyse einer machtlos gewordenen Demokratie.

Die Symptome, an denen westliche Demokratien kranken, zeigen sich sowohl an der Krise der Legitimität (die Unterstützung nimmt ab) als auch an der Krise der Effizienz (die Tatkraft nimmt ab). Um seine Thesen zu untermauern, liefert Van Reybrouck viele Fakten, sowohl was den Wählerschwund als auch Wählerwanderung und Rückgang von Parteienmitgliedschaften betrifft. Er zeigt auch, wie zahnlos eine Politik geworden ist, die gleichzeitig immer lautstärker agiert. „Der Wahn des Tages regiert wie nie zuvor.“ (S. 22) Der Autor zeigt am Beispiel Belgiens (das Land war nach dem Juni 2010 anderthalb Jahre ohne Regierung), dass tatkräftiges Regieren immer schwieriger wird, u. a. weil Koalitionsverhandlungen immer länger dauern. Als Heilmittel für die offensichtlich kranke Demokratie sieht Van Reybrouck drei Möglichkeiten an: den Populismus, die Stärkung der Technokratie sowie den Antiparlamentarismus (z. B. in Form der „Fünf-Sterne-Bewegung“ in Italien). Alle drei Optionen erachtet der Autor als gefährliche Feinde der Demokratie. Insgesamt, so meint er, werde das Demokratiemüdigkeitssyndrom aber nicht von der repräsentativen Demokratie als solcher verursacht, sondern von einer spezifischen Variante, „der elektoral-repräsentativen Demokratie, der Demokratie, bei der die Volksvertretung durch Wahlen zustande kommt“ (S. 46). Der blinde Glaube an den Urnengang als das ultimative Fundament der Volkssouveränität sei nicht mehr zeitgemäß, denn „eine Demokratie, die sich darauf reduziert, ist dem Tode geweiht“ und Wahlen sind heute nur mehr „der fossile Brennstoff der Politik“ (S. 61f.).

Eine mögliche Alternative sieht Van Reybrouck im Losverfahren. Dabei handele es sich, so seine Analyse, um ein historisch viel demokratischeres Instrument, das heute wiedereingeführt werden könnte. Beispiele seien das antike Athen, die blühenden Republiken von Venedig oder Florenz zu Zeiten der Renaissance sowie in ihren Anfängen auch die Französische Revolution. Durch das Losverfahren würden Bürger aktiv - etwa in einer zusätzlichen Bürgerkammer (angedacht  mit Conventions,  Bürgerversammlungen oder Zukunftsräten) - an Entscheidungsprozessen und der Formulierung von Gesetzestexten mitwirken. Die Bürger würden repräsentativ aus den verschiedensten Bevölkerungsgruppen ausgelost, um ein breites Spektrum abzubilden. Van Reybrouck schwebt dabei ein duales System aus Wahlen und Losverfahren vor. So könnte beispielsweise der Senat ausschließlich aus gelosten Bürgern bestehen, während im Parlament weiterhin die gewählten Vertreter ihren Sitz hätten. Dafür spricht jedenfalls die Tatsache, dass die Bevölkerung wesentlich breiter beteiligt wäre. Ein interessanter Ansatz, dessen Erfolg freilich nicht gewährleistet ist. Unklar ist vor allem, ob die per Losentscheid Berufenen hinlänglich motiviert bzw. qualifiziert sind, sich den ihnen anvertrauten Aufgaben entsprechend zu widmen. Alfred Auer

Bei Amazon kaufenVan Reybrouck, David: Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist. Göttingen: Wallstein-Verl., 2016 (2. Aufl.). 198 S., € 17,90 [D], 18,40 [A]

ISBN 978-3-8353-1871-7