Gegen die kannibalische Weltordnung

Ausgabe: 2017 | 4
Gegen die kannibalische Weltordnung

Wer von Jean Zieglers aktuellem Buch, erschienen in seinem 83sten Lebensjahr, allein eine Rückschau auf sein Leben erwartet, kennt den Autor nicht. Auch wenn es darin um seine „gewonnenen und verlorenen Kämpfe“ geht, blickt Ziegler in die Zukunft, zu jenen Kämpfen, „die wir gemeinsam gewinnen werden“, wie es im Untertitel des Bandes heißt.

Ziegler verfasst eine Art Hommage an die Vereinten Nationen, der er seit vielen Jahren – zunächst als Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, nun als Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des Menschenrechtsrates – angehört. Er sieht durchaus die Schwächen dieser Organisation, ist aber überzeugt, dass es keine Alternative zu ihr gibt, um gegen Hunger, Gewalt und Krieg anzugehen. Während die Neuordnung der Welt 1945 die allgemeine Garantie der Menschenrechte und die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit sowie der Souveränität aller Völker in Aussicht gestellt habe, sei diese durch die globalen Konzerne und das internationale Finanzkapital zusehends untergraben worden, so Zieglers zentrale These. Mehr als 54 Millionen Menschen seien 2016 auf den „Schlachtfeldern des Hungers“ gestorben, fast so viele wie in den sechs Jahren des Zweiten Weltkriegs. Wie in früheren Büchern spricht Ziegler von einem „Dritten Weltkrieg gegen die Völker der Dritten Welt“ und von einer „kannibalischen Weltordnung“.  „Die Welt befindet sich in einer Teufelsspirale“, meint er an einer Stelle und belegt dies mit Zahlen: „Die Finanz- und Wirtschaftskraft der 562 reichsten Personen der Welt ist zwischen 2010 und 2015 um 41 Prozent angewachsen, während die der 3 Milliarden ärmsten Menschen um 44 Prozent abgenommen hat.“ (S. 46)

Als wesentliche Ursachen der Misere benennt Ziegler die Konzentration der Wirtschaft auf große Konzerne, den modernen Finanzkapitalismus sowie die Verschuldungsfalle. Ein eigenes Kapitel widmet er den sogenannten „Geierfonds“, die in Steuerparadiesen sitzen und sich auf den Ankauf von Schuldtiteln von Staaten zu Ramschpreisen spezialisiert haben. Ziegler schildert, wie ein von ihm für den Menschenrechtsbeirat erarbeiteter Entwurf zum Verbot dieser Fonds zu Fall gebracht wurde und wie dies mit der Abwahl der Linkskoalition in Argentinien 2015 zusammenhängt (diese wollte als erstes Land die Bedingungen der Geierfonds nicht mehr akzeptieren). Heftige Kritik übt Ziegler auch an der Europäischen Union, die anders als sich das ihre Gründer vorgestellt hatten, zu einer „Clearingstelle“ im Interesse transnationaler Konzerne verkommen sei (S. 49).

Im Abschnitt „Die Imperiale Strategie“ legt Ziegler die unrühmliche Rolle der USA in vielen Konfliktherden – von Hiroshima und Vietnam über Lateinamerika bis hin zum Nahen Osten – dar. Insbesondere eine Schlüsselfigur der US-Außenpolitik wird dabei mit einem harten Urteil versehen: „Nach allen Kriterien des internationalen Rechts, der Menschenrechte und des Humanitären Völkerrechts ist Henry Kissinger ein Kriegsverbrecher. Einer der schlimmsten seiner Generation.“ (S. 115)

Im Kapitel über seine Sichtweise zu den Konflikten im Nahen Osten (und der trotz aller Widrigkeiten positiven Rolle der UN-Blauhelme) geht Ziegler auch auf das ihm mehrfach vorgeworfene Naheverhältnis zu Saddam Hussein und Muhamar Gaddafi ein. Er schildert deren Wandel von Revolutionären und Gestaltern ihrer Länder zu aggressiven und selbstsüchtigen Diktatoren, von denen er sich früh distanziert hat.

Resümee: Das Buch gibt Einblick in das Engagement eines großen Humanisten und Kämpfers für die Menschenrechte. Es lebt von den politischen Analysen und den Schilderungen Zieglers sozusagen aus „erster Hand“ als UN-Mitarbeiter. Dabei erfährt man auch das eine oder andere Persönliche, etwa über Zieglers frühe Beeinflussung durch Jean Paul Sartre und dass Simone de Beauvoir sein erstes Buch kritisch lektoriert hat. Von einer Journalistin kurz vor Erscheinen seines (bislang) letzten Buches darauf angesprochen, warum er für eine derart widersprüchliche Organisation wie die UNO arbeite, antwortete Ziegler, dass er „subversive Integration“ (S. 91) praktiziere. Eine treffende Beschreibung eines Intellektuellen und Politikers, der als mahnendes Gewissen unserer Wohlstandszivilisation in die Geschichte eingehen wird. Hans Holzinger

Bei Amazon kaufenZiegler, Jean: Der schmale Grat der Hoffnung. Meine gewonnenen und verlorenen Kämpfe und die, die wir gemeinsam gewinnen werden. München: Bertelsmann, 2017. 320 S., € 19,90 [D], 20,60 [A] ; ISBN 978-3-570-10328-9