Gegen den Zerfall des Sozialen

Ausgabe: 2007 | 4

„Wenn Personen oder Gruppen mit unterschiedlichen kulturellen Paradigmen in Beziehung zueinander treten, kann nicht länger die Kultur des einen oder die Kultur des anderen die Referenz sein. Soll ihr Zusammenleben gelingen, müssen sie das allen Gemeinsame finden.“ (S. 10). Damit bringt der Autor – er ist Erzbischof von Dijon – die Herausforderung einer globalen Ethik auf den Punkt. Man könne sich jedoch nicht damit begnügen, nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu suchen, vielmehr gelte es die eigenen Überzeugungen gut zu argumentieren. Ethik stehe demnach in der Pflicht, „ihre eigene Dynamik freizulegen, um Personen und Gemeinschaften von ihrer Wohlbegründetheit zu überzeugen“ (S. 11). Eben dies tut der Autor aus seiner (christlichen) Sicht und erfasst dabei die zentralen Bereiche „Familie und Gesellschaft“, „Wirtschaftsleben“, „Zivilgesellschaft“, „politische Gesellschaft“ sowie „Staatengemeinschaft und Friede“. Die Ausführungen werden Zuspruch und Widerspruch von unterschiedlicher Seite erhalten. Ein traditionelles Bild von dauerhafter Ehe und Familie, das die „auch heute zumeist noch von der Familienmutter erledigte Haus- und Erziehungsarbeit als Arbeit“ anerkannt sehen will (S. 51), korrespondiert mit Forderungen an die Wirtschaft, die Familienleben auch ermöglichen muss („Die individualistische Gesellschaft setzt der Familie hart zu, was für die Gesellschaft selbst nicht ungefährlich ist.“ S. 56) Erwerbsarbeit gilt Minnerath als soziales Rückgrat einer Gesellschaft. Diese müsse Bedingungen schaffen, „damit alle ihre Mitglieder von ihrer Arbeit leben können“, Arbeit müsse „stets den Vorrang vor der Rentabilität des Kapitals allein“ haben, denn Arbeitslosigkeit zeuge „von gesellschaftlicher Unordnung“ (S. 63). Missverständlich erscheint dabei freilich die Forderung, der Markt solle angesichts zunehmender Produktivität „neue Bedürfnisse erzeugen, die neue Arbeitsplätze generieren“ (ebd.). Denn andererseits müsse oberster Zweck des Wirtschaftens sein, die Grundbedürfnisse sämtlicher Mitglieder der Gesellschaft zu befriedigen: „Eine Gesellschaft kann sich nicht auf ambitiöse Konsumprogramme einlassen, wenn Teile von ihr unter der Armutsgrenze leben.“ (S. 70) Dieses Prinzip „der allgemeinen Bestimmung der Güter“ wird später auch auf die globale Ebene übertragen und mit dem Prinzip der „Einheit der Menschheit“ verknüpft. Gerechtigkeit verlange daher, „dass jeder Form von Ausbeutung und Beherrschung der ärmsten Völker ein Ende gesetzt wird und dass die nötigen Mittel eingesetzt werden, um ihre Bedürfnisse besser zu befriedigen und den Zugang zu den für die eigene Entwicklung unerlässlichen Werkzeugen zu öffnen.“ (S. 133) Minnerath, der eine Vielzahl weiterer Aspekte des Lebens anspricht (bis hin zu Bürgerpflichten wie Steuerzahlen), insistiert mehrfach auf dem Selbstzweck des Menschen und seiner Beziehungen, die dem Marktgeschehen nicht untergeordnet werden dürfen. Die zunehmende Globalisierung des Lebens erscheint ihm irreversibel, es gelte aber der Gefahr eines neuen „planetaren Menschen“ entgegenzuwirken, der überall „dieselben Konsumgewohnheiten, dieselben Reflexe, geprägt von Individualismus, Gewinnstreben und einem gewissen Desinteresse an den öffentlichen Angelegenheiten“ habe (S. 143).

 

Den Ausführungen ist wohl in vielem zuzustimmen. Ihren appellativen Charakter teilen sie freilich mit anderen ethischen Schriften, die Geschichte nicht als politische Auseinandersetzung zwischen Interessensgruppen begreifen, sondern auf die Einsicht, Vernunft und das Gerechtigkeitsempfinden aller Beteiligten setzen – vom einfachen Bürger bis hin zum Millionär, was im klassischen Prinzip der katholischen Soziallehre „Eigentum verpflichtet“ seinen Ausdruck findet. H. H.

 

Minnerath, Roland: Gegen den Zerfall des Sozialen. Ethik in Zeiten der Globalisierung. Freiburg: Herder, 2007. 160 S., € 16,90 [D], 17,40 [A], sFr 30,60

 

ISBN 978-3-451-28662-9