2037

Ausgabe: 2012 | 1

In jüngster Zeit erscheint zunehmend Zukunftsliteratur, die zu beschreiben beabsichtigt, wie der Alltag in den nächsten Jahrzehnten aussehen könnte. Es geht darin nicht um Extreme, also weder um die Beschreibung von Horrorszenarien noch von paradiesischen Verhältnissen. Vielmehr manifestiert sich in diesem Trend ein deutlicher Realismus gegenüber dem permanenten Wandel. Ein solches Werk hat nun auch die Hamburger Trendforscherin Birgit Gebhardt vorgelegt. Ihr Anspruch besteht darin, „die verschiedenen Dynamiken und erkennbaren Facetten der Zukunft zu einem Entwurf zusammenzuführen: das Heute weiterdenken, Sachverhalte interpretieren, ihre Ursachen erkennen, Entwicklungen verknüpfen, Potenziale ausloten und Konsequenzen ableiten.“ (S.10) Der zeitliche Horizont beträgt ein Vierteljahrhundert und vier Basistrends werden von der Autorin zugrunde gelegt: demografischer Wandel, zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich, Kontinuität kapitalistischer Wirtschaftsweise, weitere Vernetzung von Kommunikationstechniken und Menschen. In den neun Kapiteln werden wesentliche Bereiche gesellschaftlichen Lebens im Jahr 2037 beschrieben: Bildung, Konsum, Beziehungen, Arbeit, Stadtentwicklung, Integration, Engagement, Gesundheit, Sinnsuche. Und ergänzt wird jedes dieser Kapitel durch einen Abschnitt, in welchem empirische Befunde und aktuelle Trends belegt werden. Diese spickt sie nicht etwa mit „phantastischen“ Ereignissen, sondern mit realitäts- und menschennahen Geschehnissen. Sie erklärt dazu: „Wir werden in 25 Jahren keine neuen Menschen sein. Die Lebensinhalte, die Dinge, mit denen wir uns beschäftigen, die grundsätzlichen Fragen, die wir uns stellen, werden sich in 25 Jahren nicht wesentlich ändern. Es ändern sich aber die Modi, die (technische) Art und Weise, in der wir mit den alten Fragen umgehen (…).“ (S. 11) Ein ausgewähltes Spektrum an möglichen Zukünften wird durch die „narrative Erzählform“ angeboten, durch eine Kombination von Alltagsbeschreibungen anhand von drei Protagonisten und ihren alltäglichen Aktivitäten, Interaktionen und Gedankengängen. Da ist einmal der 63-jährige Unternehmensberater Geoffrey, der sowohl persönlich als auch beruflich einen Neustart versucht. Eine weitere Person ist die 45-jährige Nana, die im Bereich persönlich-sozialer Dienstleistungen um Erfolg kämpft mit einem „Concierge Service“, sich den verschiedenen Marktbewegungen stellen und experimentieren muss. Des Weiteren tritt die 34-jährige Romina auf, die als IT-Expertin in Deutschland versucht, ihre Familie in der Ukraine zu unterstützen und mit der Entwicklung eines „Care-o-bot“ den großen Wurf zu machen sucht. Am Beispiel dieses Pflegeroboters werden diverse Geschäftsmodelle und vertragliche Lösungsvarianten mit einer potenziellen Unterstützerin bzw. Investorin (der erwähnten Nana) durchgespielt.

„Menschliche Abwägungen“

Mit einem Einblick in die drei persönlichen Verhältnisse, in die alltäglichen Verrichtungen, Dialoge und Gedanken wird eine Zukunft gezeichnet, die erstaunlich nahe an heutigen Verhältnissen und Problemlagen ansetzt: Alterung, Gesundheitsproblemen, Arbeitsstress und Konkurrenz bzw. Selbstvermarktung, und immer wieder neue technische Artefakte, die das Leben erleichtern sollen. Der genannte „care-obot“ stellt ein Extrembeispiel dar: es ist das Konzept eines Pflegeroboters in Form eines Teddybärs (derartige Roboter existieren bereits heute). Sehr realitätsnah werden an diesem und zahlreichen anderen Beispielen vielfältige Problemlagen durchgespielt: Eltern-Kind-Beziehungen, Kostensteigerungen im Gesundheitswesen und vor allem beim Pflegepersonal, persönliche Lebensentwürfe und Karriereplanungen, die es für die Personen zu verbinden und auszutarieren gilt. Diese „menschlichen“ Abwägungen machen das Buch so spannend. Erfreulich ist auch, dass gewissermaßen „triviale“ Konflikte und Widersprüche thematisiert werden, wie die Belastung oder Überlastung durch die technisch mögliche Dauerkommunikation oder die Verödung ostdeutscher Landstriche, die Verarmung von Bevölkerungskreisen, das Ausmaß von Migration, die Zunahme von Medikamenten- bzw. Drogenkonsum u. a. zur Leistungssteigerung. Im Wesentlichen aber sind es überraschungsfreie Zukünfte, die Gebhardt erzählt. Parallel zu den narrativen Kapiteln werden Fakten und Einschätzungen aus wissenschaftlichen Studien, Statistiken, Trendmeldungen angeführt. Mit ihnen werden die in den narrativen Kapiteln geschilderten Problemlagen untermauert und einige konkrete Herausforderungen konkretisiert. Insgesamt bietet der Band zahlreiche konkrete und interessante Hinweise auf künftige Alltagssituationen und erwartbare Herausforderungen für die Individuen. E. G.

 

Gebhardt, Birgit: 2037. Unser Alltag in der Zukunft. Hamburg: edition Körber-Stiftung, 2011. 409 S. € 16,- [D], 16,50 [A], sFr 28,- ISBN 978-3-89684-086-8