Evolutionäre Ethik und Erziehung

Ausgabe: 1999 | 1

Daß Ethik heute in aller Munde und Gegenstand so vieler Symposien ist, zeugt vom gegenwärtigen Defizit an verbindlichen moralischen Maßstäben. Auf welches Fundament kann sich denn eine Ethik heute noch berufen? Seit der Aufklärung kämpft die Philosophie gegen die Schwierigkeit, ethische Prinzipien ohne Bezug auf religiöse Überzeugungen begründen zu müssen. Kant versuchte das Problem zu lösen, indem er die Moral aus der Vernunft ableitete und die sittlichen Kräfte des Menschen einfach als Tatsache postulierte. Die Pädagogik blieb dieser idealistischen Auffassung im wesentlichen bis heute verhaftet und mußte entsprechend oft das Scheitern ihrer hochfliegenden Ambitionen hinnehmen.

Nun tritt die Evolutionsbiologie an die Pädagogik mit dem Angebot heran, ihr bei der Begründung ethischer Normen zu helfen. Bei dieser Begegnung prallen zwei konträre Menschenbilder aufeinander. Die herkömmliche Pädagogik hört nicht gerne von tierischen Instinkten, die das Verhalten des Menschen zwar nicht deterministisch steuern, aber doch entscheidend beeinflussen und einengen, denn für die Biologen steht der Mensch als geborenes Hordenwesen mit seinen natürlichen Anlagen immer noch auf der Stufe der Jäger und Sammlerinnen. Deshalb sei er zwar zu solidarischem Verhalten innerhalb von Kleingruppen fähig, doch bei abstrakteren Anforderungen und in größeren sozialen Einheiten versage seine moralische Kompetenz. Irenäus Eibl-Eibesfeldt geht sogar so weit, Fremdenfeindlichkeit als biologische Gegebenheit zu betrachten, und beruft sich dabei zu Unrecht auf die Säuglingsforschung.

Der Vorwurf des Biologismus liegt natürlich in der Luft und wird gleich in der Einleitung vorweggenommen: Nach Auffassung der modernen Evolutionsbiologie zwingt uns unser natürliches Erbe nicht zu bestimmten Handlungen, gibt uns aber angeborene Neigungen mit, die bei der Regelung des Zusammenlebens nicht mißachtet werden dürften. Andernfalls wäre der Mensch heillos überfordert. Das klingt vorsichtig und gemäßigt. Der Pädagoge Karl Ernst Nipkow bringt dennoch auf den Punkt, woher der Wind der Verhaltensforschung und Evolutionsbiologie meist weht: Deren Befunde scheinen ihm „für ein Erklärungsmuster geeignet zu sein, das gesellschaftliche Ursachen weniger gern behandeln und mit Hilfe biologischer Universalien im menschlichen Verhalten jenen politisch-moralischen Veränderungswünschen entgegentreten möchte, die die Gesellschaft überanstrengen könnten“ (148). R. L.

Die Natur der Moral. Evolutionäre Ethik und Erziehung. Hrsg. v. Dieter Neumann ... Stuttgart (u. a.): Hirzel (u. a.), 1999. 268 S. (Ed. Universitas) DM 68,- / sFr 62,- / öS 496,-