Nilüfer Göle

Europäischer Islam

Ausgabe: 2017 | 1
Europäischer Islam

Wie leben Muslime in Europa? Welche Bedeutung hat der Islam für den Alltag, spielt die Sharia eine Rolle, warum tragen manche Musliminnen Kopftuch, andere nicht?

Die französische Soziologin Nilüfer Göle hat Muslime in 21 europäischen Städten zu ihrem Alltagsleben befragt und zeigt, dass deren neue Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit vielfach irritierend wirkt: Tatsächlich werden gerade jene Muslime, die sich aktiv in die Gesellschaft einbringen und damit eine echte Integrationsanstrengung machen, als größte Bedrohung wahrgenommen (S. 94f.). Dazu kommt, dass muslimischer Alltag in Europa mit zahlreichen Konflikten mit der Mehrheitsgesellschaft konfrontiert ist. Ein besonders wichtiges Thema für Göle ist der Konflikt zwischen Kunstfreiheit und Beleidigung des Islam. Während die Autorin die Kunstfreiheit verteidigt, kritisiert sie die offensichtliche Lust an der Provokation und Beleidigung, die als Instrument für Integration missverstanden wird. Ähnlich verhält es sich mit dem Kopftuch, welches für viele Musliminnen ein Ausdruck von Selbstermächtigung ist. Doch sämtliche Errungenschaften dieser Frauen verschwinden hinter der Kritik am Kopftuch, welches als Integrationshemmnis gesehen wird (S. 166f.).

Die Tatsache, dass die meisten Muslime die Scharia ablehnen, zeigt, dass eine flexible europäische Lesart des Islam durchaus möglich ist und auch betrieben wird. Stärkere Sichtbarkeit muslimischer Bedürfnisse bedeutet nicht Unterwanderung, wie das Beispiel von Halal-Produkten zeigt: Europäische Muslime wollen ihren Lebensstil angleichen und verlangen nach Produkten, die ihren Wertvorstellungen entsprechen. Das gleicht den aktuellen Bio-Bewegungen. (vgl. S. 205)

Die große Stärke des Buches ist zweifelsohne, dass Muslime zu Wort kommen, um ihre Perspektiven und Argumente darzulegen. Diese Stärke stellt aber auch eine Schwäche dar: Mitunter wirkt das gezeichnete Bild des Islam in Europa geschönt, was an der Auswahl der StudienteilnehmerInnen liegen mag: Ohne dass die Autorin genauere Auskunft darüber gibt, wirken die Befragten gebildet und reflektiert. Sie repräsentieren eine Elite, während die Perspektiven des muslimischen Prekariats in Europa nicht erfasst werden. Eine breitere Studie zu diesem Thema wäre daher wünschenswert.