Europa 2020. Szenarien politischer Entwicklung

Ausgabe: 1997 | 3

Mit der These, daß „Machtgleichgewicht" auch das "organisierende Prinzip" der künftigen europäischen Ordnung sein werde, eröffnet Werner Link den Reigen dieser insgesamt sechs politikwissenschaftlichen Zukunftsprognosen für Europa. Auch Wilfried v. Bredow prognostiziert in seinem Beitrag keinen Euro-Staat, er spricht lediglich von der "Runderneuerung" Europas. Die unterschiedlichen Akteure wie Nationalstaaten, Mini-Regionen, kommunale Verbände, Firmen und NGOs würden in der "Makro-Region" Europa - der Autor meint damit die EU, ohne dies explizit zu machen -, ihre jeweiligen Interessen artikulieren: "Mal mit, mal gegen die Institutionen der Integration". Drei grobe Szenarien stehen im Zentrum des Beitrags von Wolfgang Wesseis. Einem ”Kontinuitätsszenario" mit zunehmender Integration, an dessen Ende eine neue "europäische Politik", nicht ein "vollendeter Bundesstaat" stehen würde, stellt der Autor ein "Wendeszenario" der ”Renationalisierung öffentlicher Problemverarbeitung", welche mit einer fortschreitenden Legitimitätskrise der EU einhergehe, entgegen. Szenario 3 unterstellt schließlich "konjunkturelle (Stimmungs-)schwankungen'" bei grundsätzlicher Fortschreibung der Integration. Für wahrscheinlich hält Wesseis das Oszillieren zwischen einem ”Kerneuropa" der finanzstabilsten Staaten („Finanzschengen") und einem ”Europa la carte". welches "funktional angemessene, sektorieIl begrenzte Teilabsprachen für jeweils interessierte Staaten" suche. 

Hanns W. Maull stellt die Fähigkeit zu wirksamer Zusammenarbeit von Nationalstaaten unter Abgabe von Souveränitätsvorbehalten als Zukunftsnotwendigkeit einer internationalen Politik heraus, welche den Übergang "von der Dominanz der Macht zur Vorherrschaft des Rechts" einleite. In der Europäischen Union werde dieses Prinzip "exemplarisch" für die Welt erprobt. In vielerlei Hinsicht interessant ist die Konzeption eines „regionalföderalen Europas" durch Thomas O. Hueglin, Professor für Politikwissenschaften in Kanada, der "als gelegentlicher Europabesucher" eine fortschreitende „Amerikanisierung" des Kontinents und damit den Verlust kultureller Vielfalt konstatiert. Er schlägt u.a. einen europäischen Regionalrat (als Ergänzung zum Ministerrat) sowie einen Kommunenrat, eine europäische Sozial- und Regionalcharta, die Erweiterung der finanzpolitischen Autonomie der Regionen sowie die Demokratisierung regionaler Wirtschaftspolitik vor. Über "Sozialzölle" innerhalb Europas wie nach außen, deren Erträge in Entwicklungsfonds eingezahlt werden, solle dem neoliberalen „Social dumping" entgegengewirkt werden. Das „Akzeptanzproblem" von Maastricht-Europa macht Gerald Mörsburger zum Ausgangspunkt seiner Analysen über pluralisierte politische Gesellschaften. Es reiche nicht, das Repräsentanzsystem der Staaten lediglich auf Europa zu übertragen - etwa durch eine direkte Legitimation des Europäischen Parlaments durch ein Zwei-Kammern-System. Die "Geltung der Politischen Union" hätte, so der Autor, daher einer europaweiten, individuellen Abstimmung unterzogen werden müssen. Die Herausgeber, Thomas Jäger und Melanie Piepenschneider (letztere leitet die Abteilung Europaforschung der Konrad-Adenauer-Stiftung) geben schließlich einen vorsichtig optimistischen Ausblick dergestalt, daß die "mächtigeren Staaten" im eigenen Interesse auch in Zukunft den "Erhalt der Integration" gegenüber Partikularinteressen zurückstellen würden. Ein Befund, der auch vom letzten Beitrag - Gerhard Kümmel hat dafür alte "Prognosen über Europa" seit Gründung der EWG-Wiedergelesen" - bestätigt wird. 

Im Rückblick auf die konfliktträchtige Geschichte Europas ist der hier beschriebene Integrationsprozeß ein politischer Fortschritt. Angesichts der zu bewältigenden sozialen und ökologischen Herausforderungen globaler Dimension, denen sich auch die EU nicht entziehen kann, lassen diese „Zukunftsprognosen“ jedoch vieles zu wünschen (bzw. zu erdenken) übrig. H. H.

 

Europa 2020. Szenarien politischer Entwicklung. Hrsg. v. Thomas Jäger ...Opladen: Leske + Budrich, 1997. 193 S.