Essay zur Politik der Freiheit

Ausgabe: 1992 | 2

"Die Summe meiner Sozialwissenschaft" nennt Ralf Dahrendorf seinen umfangreichen Essay über den "modernen sozialen Konflikt". Der Blick zurück schärft dabei den Blick für Gegenwart und Zukunft: Ausführlich widmet sich Dahrendorf dem "Antagonismus von Anrechten und Angebot, ... dem Konflikt zwischen fordernden und saturierten Gruppen" seit der französischen Revolution. Letztlich führte dieser Konflikt zur Entstehung der Bürgergesellschaft, für den liberalen Soziologen die einzig erstrebenswerte Form gesellschaftlichen Zusammenlebens. "Ihr Sinn ist es, vielen Gruppen Luft zum Atmen und zum Wirken zu eröffnen, so dass sich keine als Tyrann aufspielen kann .... Sie stellt den verlässlichsten Anker der Freiheit dar, die Demokratie verschafft ihr den sichtbarsten Ausdruck". Die freie Marktwirtschaft ist für Dahrendorf die dritte Säule, auf der dieses Gesellschaftsgebäude ruht. Nach revolutionären, sozialistischen und nationalsozialistischen Irr- und Umwegen scheint dieses Ziel zumindest in den OECD-Staaten nunmehr verwirklicht. Doch ist, nach dem Fall des Kommunismus, deshalb auch das von Francis Fukujama postulierte "Ende der Geschichte" erreicht? Angesichts der horrenden Kluft zwischen Erster und Dritter Welt und neuem sozialen Sprengstoff in den Hochtechnologie-Gesellschaften scheint die Frage sich zu erübrigen. Bürger, die anderen Bürgern, "Schmarotzern" oder "Asylanten" jegliches soziales Anrecht verweigern, strafen den Begriff der Bürgergesellschaft Lügen. Eine saturierte Mehrheitsklasse hat sich in einer überbordenden sozialstaatliehen Verwaltungsmaschinerie häuslich eingerichtet: (geistiger) Leerlauf und gesellschaftliche Lähmung sind die Folgen. Neue "Unterklassen" sind entstanden, die in zum Teil" rechtsfreien Räumen" vegetieren und der" Krieg der Handelsgiganten ist die schlechteste Antwort auf den Zerfall der alten Ordnung". Kurzum: "Wir stehen vor einem Scherbenhaufen". Dahrendorf entwirft nun eine (radikal-)Iiberale Agenda; er argumentiert, "dass Bürgergesellschaften sich auf Dauer nicht aufrechterhalten lassen, es sei denn, wir verstehen sie als Schritte auf dem Weg zu einer Weltbürgergesellschaft". Diese ist freilich nur in Ansätzen erkennbar, in manchen supranationalen Institutionen etwa, die im Konfliktfall meist versagen, weil sie ursprünglich als "Schönwetter-Institutionen" konzipiert wurden. Da muss sich auch der pragmatische Analytiker, dem verschwommene "Werte" suspekt sind, letztlich aufs Hoffen verlegen. P.A.

Dahrendorf, Rolf: Der moderne soziale Konflikt. Essay zur Politik der Freiheit. Deutsche Verlags Anstalt, Stuttgart: Dt.-Verl.-Anst., 1992. 328 S., DM 44,- / sFr 37,30/ öS 343