Peter R. Neumann

Dschihadismus in Europa

Ausgabe: 2017 | 1
Dschihadismus in Europa

In "Dschihadismus in Europa" geht Peter R. Neumann der wichtigen Frage nach, warum sich Personen radikalisieren, und zeigt, dass Wege zur Radikalisierung prozesshaft und höchst individuell verlaufen. Fünf „Bausteine“ sollen Radikalisierung erklären, wobei keiner allein ein vollständiges Erklärungsmodell liefert:

Auch wenn die meisten Muslime in Europa ein friedliches Leben als Teil der Mehrheitsgesellschaft anstreben, haben die seit Jänner 2015 gehäuft stattfindenden Terroranschläge gezeigt, dass der radikale Islam zu einer realen Gefahr in Europa geworden ist und es für europäische Gesellschaften zunehmend schwer ist, mit dem Phänomen ohne repressiver Maßnahmen gegen muslimische BürgerInnen umzugehen.

Peter R. Neumann geht der wichtigen Frage nach, warum sich Personen radikalisieren, und zeigt, dass Wege zur Radikalisierung prozesshaft und höchst individuell verlaufen. Fünf „Bausteine“ sollen Radikalisierung erklären, wobei keiner allein ein vollständiges Erklärungsmodell liefert:

Zunächst erweist sich die Unfähigkeit, mit frustrierenden Erfahrungen umzugehen, als Gefahr. Dies betrifft vor allem sozial exkludierte junge Männer der zweiten und dritten Zuwanderergeneration. Umgekehrt können sich „autochtone“ EuropäerInnen radikalisieren, wenn sie Unmut darüber spüren, dass der Status quo ihrer Gesellschaft wankt. Dazu kommt der „Drang“, die Gefühlswelt von Individuen auf der Suche nach Identität, Gemeinschaft, Bedeutung, Ruhm, Abenteuer (S. 64). Vor allem die Verführung, dem sinnentleerten Leben einen Sinn zu geben, erweist sich als stark. Eine besonders wichtige Rolle bei Radikalisierungsprozessen spielen Ideen bzw. Ideologien: Gerade der salafistische Islam bietet Entwurzelten einfache Antworten auf komplexe Probleme. Das Gleiche lässt sich bei den zunehmend erstarkenden rechtsradikalen Bewegungen in Europa beobachten, die einem „kulturellen Genozid“ vorbeugen wollen und dabei nicht nur Muslime, sondern auch Linke bekämpfen (S. 89). Neumann betont auch die Rolle von Vorbildern und sozialen Gruppen. Tatsächlich hat sich im Fall von Auslandskämpfern für den Islamischen Staat gezeigt, dass viele schlicht dem Freundeskreis oder dem charismatischen Führer in das Kriegsgebiet folgten. Als letzten Baustein nennt Neumann Gewalt. Eigene Gewalterfahrung, ein krimineller Hintergrund, aber auch staatliche Repression und Demütigungen erleichtern das Anwenden von Gewalt.

Zudem warnt Neumann vor neuen Trends bei Radikalisierungen. So hat Religion linke oder anarchistische Ideologien als Rechtfertigung für Terror abgelöst. Dazu kommt die Rolle des Internets als kraftvolles Propagandainstrument und als Möglichkeit, Personen ohne radikalisierte Freundeskreise anzusprechen. Diese sogenannten „einsamen Wölfe“ stellen einen weiteren Trend dar; sie radikalisieren sich ohne größere Netzwerke (S. 182). Bemerkenswert ist die steigende Anzahl von jungen Frauen in dschihadistischen Bewegungen. Tatsächlich sehen manche europäische Musliminnen ihre Radikalisierung als Akt der Emanzipation, in dem sie scheinbar selbstbestimmt ein Leben jenseits feministischen Drucks leben. Der letzte große Trend, den Neumann ausmacht, ist die „Proletarisierung“ des Dschihads: Waren Terroristen früher oft Teil einer intellektuellen Elite, hat vor allem der Islamische Staat eine breitere Rekrutierungsbasis geschaffen, die gerne auf bildungsferne Kriminelle zurückgreift, häufig in Gefängnissen.

„Was tun?“, fragt Neumann am Ende seines Buches (S. 235). Der Autor verweist auf zwei Möglichkeiten: Prävention vor allem in der Jugendarbeit, in den lange vernachlässigten Vorstädten, den Gefängnissen und Schulen. Dort, wo Radikalisierung bereits passiert ist, können Deradikalisierungsprogramme Extremisten zurück in die Gesellschaft holen. Sollte es nicht gelingen, Radikalisierung und Terror Einhalt zu gebieten, steht laut Neumann mit Blick auf rechtspopulistische Bewegungen das europäische Gesellschaftssystem auf dem Spiel (S. 241).