Die zweite Aufklärung. Vom 18. ins 21. Jahrhundert.

Ausgabe: 1999 | 4

Mit den technischen Errungenschaften des digitalen Zeitalters kann Neil Postman nicht viel anfangen. Das Internet ist ihm ein Greuel, über ein eigenes Faxgerät verfügt er immer noch nicht, und bis heute lehnt er es beharrlich ab, sich einen Computer oder auch nur einen Anrufbeantworter zuzulegen. Man kann diese Verweigerungshaltung als anachronistisch und verschroben abtun. Postman glaubt jedoch, für sie gute Gründe zu haben.

Auch in seinem neuesten Buch macht Postman die elektronischen Kommunikationsmedien wieder für etliche gesellschaftliche Fehlentwicklungen und Pathologien verantwortlich. So sollen das Fernsehen und der Computer am Niedergang der Kindheit im 20. Jahrhundert schuld sein. Weil sie nämlich allen Kindern und Erwachsenen ungehinderten Zugang zu denselben Informationen verschaffen würden, hätten die Erwachsenen heute keinen Wissensvorsprung und damit auch keine Autorität mehr gegenüber ihren Kindern, könnten vor ihnen nichts mehr geheim halten und glichen sich ihnen immer mehr an. Postman muß dabei allerdings unterstellen, daß Kinder und Erwachsene dieselben Informationen auf dieselbe Art und Weise verarbeiten und interpretieren.

Der Autor behauptet auch, daß die neuen Medien die parlamentarische Demokratie in ihren Fundamenten angreifen. Im 18. und 19. Jahrhundert, als die Welt noch in Ordnung und die Vorherrschaft der Buchkultur noch unangefochten war, seien die politischen Debatten und Auseinandersetzungen von der Logik des gedruckten Worts bestimmt gewesen. Das gedruckte Wort fördert jedoch, so Postman, gerade die - logisch-linearen, analytisch-diskursiven - Kommunikations- und Denkweisen, ohne die moderne Demokratien nicht funktionieren können. Folglich muß es sich früher oder später verhängnisvoll rächen, wenn die Bücher mehr und mehr durch elektronisch erzeugte Bilder verdrängt werden.

Im digitalen Zeitalter hat jeder Zugang zu einer fast unendlichen Menge an Informationen. Diese Informationen können jedoch das Alltagshandeln nur dann anleiten, wenn sie klassifiziert, bewertet und zu einem Ganzen zusammengefügt werden. Hierzu ist eine “große Erzählung”, ein Sinn und Ordnung stiftendes Koordinatensystem in Gestalt eines Mythos, einer Religion oder einer Geschichtsphilosophie erforderlich. Solche “großen Erzählungen” sind jedoch nach Postmans Diagnose dem 20. Jahrhundert abhanden gekommen, was er wiederum den modernen Kommunikationsmedien anlastet. Der Medienkritiker schlägt deshalb vor, wieder an die Ideen der klassischen Aufklärung anzuknüpfen und so die Abkoppelung der Informationen von den großen Erzählungen rückgängig zu machen.

Postmans Vorschlag ist sympathisch, und nichts spricht dagegen, auf Gedanken von Diderot, Voltaire, Paine oder Swift zurückzugreifen. Es bleibt aber sein Geheimnis, wie er aus Ideen des 18. Jahrhunderts eine neue große Erzählung von mythisch-religiöser Kraft und Autorität basteln will. Auch wenn es Postman nicht lassen kann, die bösen Medien wieder einmal für alles und jedes verantwortlich zu machen - die gesellschaftlichen Pathologien, die er kurieren will, beschreibt er sehr anschaulich, differenziert und genau. Schon deshalb lohnt es sich, dieses - sprachlich übrigens hervorragende - Buch zu lesen.


F. U.

Neil Postman: Die zweite Aufklärung. Vom 18. ins 21. Jahrhundert. Berlin: Berlin-Verl., 1999. 253 S., DM 38,- / sFr 35,- / öS 288,-