Marc Augé

Die Zukunft der Erdbewohner

Online Special
Die Zukunft der Erdbewohner

Der französische Anthropologe Marc Augé hat für das vorliegende Buch einen Konferenzvortrag in Turin als Ausgangspunkt verwendet und führt die entstandene Diskussion nun weiter aus. Utopie und Mögliches werden in Bezug zu seiner bisherigen Forschung und den derzeitigen globalen Entwicklungen gesetzt. Augé greift seine Bezeichnung des Nicht-Ortes auf und untersucht vor dem Hintergrund der Globalisierung weitere Verschiebungen. Neben der Frage nach dem Raum denkt Augé über unsere Beziehung zur Zeit nach, sowie über das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft. Identität, Kultur, Kommunikation und Religion sind Felder, die angesichts des wesentlich größeren Maßstabs einer weltumspannenden Dynamik voller Veränderungen sind. Dringend erscheint Augé, eine Antwortfähigkeit auf derartige Fragen zu erarbeiten.

Die Utopie einer liberalen Gesellschaft ist, so stellt er zurecht fest,  angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen fragwürdig geworden. Sowohl ökonomische als auch technologische Globalisierung erfordern ein Denken neuer Möglichkeiten für eine tragfähige Zukunft. Wir befinden uns heute in einer Drei-Klassen-Welt: Sie setzt sich zusammen aus wenigen Mächtigen, einer großen Masse Konsumenten, und sehr vielen Ausgeschlossenen. „Die Realität der Globalisierung ist weit entfernt von den Idealen einer weltumspannenden Vergesellschaftung (planétarisation), einer Weltgesellschaft, deren rechtlich und faktisch gleiche und freie Bürger sich den Raum im Interesse des gemeinsamen Nutzens teilen …“ (S. 15). Dem Problem der wachsenden Ungleichheit könnte man mit einem Denken des Wissens als Zweck des Menschseins begegnen, denn es verweist darauf, „dass wirkliche Gleichheit der individuellen Menschen durch Zugang zu Wissen und Bildung entsteht“ (S. 19).

Im Fehlen an Zukunftsprojektionen sieht Augé eine Chance, aus historischer Erfahrung und Forschungswissen neue Vorschläge konzipieren zu können. Er stellt daher Bildung ganz oben an, denn nur sie könne die düstere Utopie zurückdrängen, die sich heute schon ankündigt: eine ungleiche und ungebildete Weltgesellschaft, die zu Konsum und Ausschluss verdammt und Gewalt und globalem Selbstmord ausgesetzt ist (vgl. S. 22).

In all den Umwälzungen der Globalisierung sei es, so Augé, wichtiger denn je, das Prinzip der drei Dimensionen des Menschen zu sehen: das Individuelle, das Kulturelle und die Gattung (S. 21). Dies ermögliche es, die notwendige Universalität des Menschen zu formulieren und das Paradigma des Elementaren wiederzufinden. „Die Existenz eines Gattungsmenschen zu postulieren bedeutet, seine Gegenwart in jedem einzelnen Menschen unabhängig von Geschlecht und Herkunft zu behaupten, es bedeutet, seine Souveränität im politischen Sinne zu behaupten“ (S. 63). Im heutigen Paradigma der Differenz, wo Kulturen substanzialisiert werden, geschehe dagegen oft eine Verringerung der Autonomie der Individuen. Die Herausforderung der Demokratie bestehe darin, „die (individuelle) Freiheit zu gewährleisten, ohne den (sozialen) Sinn zu verlieren, anders gesagt, die drei Dimensionen des Menschen miteinander in Einklang zu bringen: die individuelle, die kulturelle (soziale und relationale) und die Gattungsdimension“ (S. 64).

Ein besonderes Anliegen ist es Augé, den Beitrag der Anthropologie neu zu benennen. Spannend ist hier sein Konzept der Ethnofiktion: diese geht über eine Analyse der Wirklichkeit hinaus, um, ohne Wahrheit beanspruchen zu müssen, auf die Fragen der Zukunft antworten zu können. In diesem Sinne stellt er die Hypothese einer Bildungsutopie auf, deren Verwirklichung es ermöglichen würde, verschiedene abgeschlossene Welten einander zu öffnen und so Gleichheit und Freiheit zu gewinnen. Dann würden wir die Vorgeschichte verlassen und die Geschichte der globalen Menschheit würde ihren Anfang nehmen.