Die Welt als gemeinsame Insel?

Ausgabe: 2016 | 4
Die Welt als gemeinsame Insel?

schmidlMaterieller Wohlstand, für alle zugängliche Sozialsysteme und funktionierende Demokratien machten Europa nach 1945 zur ersten Realutopie in der Geschichte, so die Überzeugung des Utopieforschers Johannes Schmidl. In „Bauplan für eine Insel“ geht der Autor utopischen Entwürfen seit Platons „Politeia“, dem „Sonnenstaat“ von Tommaso Campanella und dem vor 500 Jahren erschienenen Werk „Utopia“ von Thomas Morus nach. Das Besondere an der „Realutopie Europa“ sei, dass deren Errungenschaften zwar wie selbstverständlich in Anspruch genommen, nicht mehr aber in ihrem Wert wahrgenommen würden. Wir sehen nur das, was nicht funktioniert. Und zudem werde ausgeblendet, auf welchen Vorrausetzungen dieses „Inselleben“ basiert. Denn: „Die Insel, die wir während unserer Ausflüge nur scheinbar verlassen, ist eine des nicht globalisierbaren Ressourcenverbrauches“ und des Anspruchs „auf erzwungene Bescheidenheit jener, die außerhalb der Insel leben.“ (S. 42). Oder pointiert: „Obwohl wir unsere Werte als universell verstehen, ist es unsere Art zu wirtschaften und zu leben nicht.“ (S. 40).

Für die Ausgeschlossenen stelle Europa jedoch eine „Ortsutopie“ uneingeschränkter Attraktivität dar. Während frühere historische Utopien in die Zukunft verlagert waren („Zeitutopien“), gäbe es heute eben reale Wohlstandsinseln. Wie die früheren utopischen Entwürfe würden die heutigen Ortsutopien durch Erzählungen weitergetragen – mit mehr oder weniger Realitätsgehalt. Aber die Geschichten tun ihre Wirkung: „Das Streben der Menschen nach der Insel der erfüllten Utopie wird vom Wasser gehemmt, von Zäunen erschwert, von Bürokratien verlangsamt, doch es wird von der Spannung zwischen dem Quell- und dem Zielort angetrieben.“ (S. 38)

Die neuen Flüchtlings- und Wanderungsbewegungen (man könnte ergänzen, auch die neuen Terroranschläge) machen den Bewohner/innen der Wohlstandsinsel die Fragilität ihrer Privilegien deutlich, folgert Schmidl. Alle Wanderungsfähigen in Europa aufzunehmen, wäre nicht machbar und würde unsere Sozialsysteme überfordern. Schmidl spricht vom Dilemma der Gleichzeitigkeit: Systeme werden funktionsuntüchtig, wenn alle gleichzeitig daran partizipieren wollen. Um den Strom der Menschen zu hemmen, brauche man aber nicht den Widerstand erhöhen, „man könnte auch das Niveaugefälle zwischen den Herkunfts- und den Zielländern“ (S. 39) zu verkleinern versuchen. Da der Export unserer Wohlstandsversprechen auf ökologische Grenzen stoße, gelte es neue Utopien zu finden. Schmidl spricht von „Inseln der Nachhaltigkeit“, die ihre materielle Basis auf erneuerbaren Ressourcen und regionaler Wertschöpfung aufbauen. Als Energietechniker setzt der Autor dabei durchaus auf moderne Technologien, etwa Solardörfer in Afrika, die die „Elektrifizierung gleich auf Basis der Sonne realisieren“ (S. 107). Notwendig seien glaubhafte und erfahrbare Vorbilder für ein gelingendes gesellschaftliches Leben, was jedoch einer anderen Art von Globalisierung bedürfe und nicht „durch die Profitmaximierung der Investoren“ erreicht werden könne, sondern nur „durch die Hoffnungsmaximierung der Bewohnerinnen und Bewohner“ (S. 107) vor Ort.

Johannes Schmidl gibt in seinem Essay einen Einblick in historische Utopien, auch in deren Gefahren, etwa den häufig anzutreffenden Totalitätsanspruch. Noch wertvoller sind jedoch die aktuellen Bezüge, die der Autor herstellt: von der Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik, moralischen Forderungen und Handlungen, aggressivem Verteidigen der Wohlstandsinseln und vernunftgeleiteten Plänen für eine Transformation in nachhaltige Strukturen. Neben einer neuen Energiebasis plädiert Schmidl für eine Neuver- teilung der „knappen Ressource“ sinnvolle Arbeit. Letztlich gehe es darum, unsere Erde als große Insel im Universum zu begreifen, eben als „Weltinsel“, in der an vielen Orten an neuen Lösungen gesucht wird, „die die Verhältnisse ins Menschen- und Nachweltverträgliche wenden“ (S. 93). Hans Holzinger

Bei Amazon kaufenSchmidl, Johannes: Bauplan für eine Insel. 500 Jahre Utopia. Wien: Sonderzahl, 2016. 123 S., € 14,- [D], 14,40 [A]; ISBN 978-3-85449-455-3