Die Religion des Kapitalismus

Ausgabe: 1997 | 1

Armut - für uns immer schon ein bedauernswertes Phänomen des Südens und vermehrt des Ostens macht nun auch vor den Türen der hochindustrialisierten Staaten nicht mehr halt. Diese "wundersame", sich stetig vergrößernde Kluft zwischen Arm und Reich beschert uns ein neoliberales Wirtschaftssystem, das Menschen und Ressourcen als numerischen Faktor betrachtet: Es rechnet sich oder es rechnet sich nicht. Der Kapitalismus ist zur Religion geworden, und der entfesselte Markt erhält göttlichen Status, der keine Alternative zuläßt. Die negativen Konsequenzen der neoliberalen Wende einen nun tatsächlich die Erste mit der Dritten Welt und drohen, die „Looser" zu Bewohnern des globalen Armenhauses zu machen. Die Stärke des vorliegenden Sammelbandes liegt in den präzisen Analysen kapitalistischer Funktionsweisen, dem klaren Blick auf die Folgen der neoliberalen Wende und dem ungebrochenen Glauben, daß Alternativen notwendig und möglich sind. Die Kritik am derzeit herrschenden Dogma des "befreiten Marktes" stützt sich auf Werte der christlichen Ethik, die Befreiungstheologie und auf eine an Marx orientierten Kapitalismusanalyse, die der Ökonom Franz J. Hinkelammert auf spannende Weise mit philosophischen Aspekten und Elementen der Chaostheorie verbindet. Eine totgeglaubte Tradition - der Dialog zwischen Christinnen und Marxistinnen - wird wiederbelebt. Ein Schwerpunkt des Buches liegt auf der differenzierten Auseinandersetzung mit der deutschen Wiedervereinigung und deren wirtschaftlichen Konsequenzen. Die Beiträge von Dorothee Sölle, Michael Brie und Jakob Moneta beschäftigen sich mit den möglichen Alternativen, denn: "Ohne Visionen werden die Menschen wüst und wild" (Salorno). Zuallererst müssen Alternativen gedacht werden, um nicht wie das Kaninchen vor der Schlange Neoliberalismus zu erstarren. Wie die Beiträge zeigen, beginnt das Denken in Alternativen schon damit Fragen konsequent zu stellen: Was ist wirtschaftliche Vernunft? Warum gehen Arbeitsplätze tatsächlich verloren? Warum werden Handelsüberschüsse nicht mehr zu neuen Investitionen, sondern zu Spekulationen verwendet? Warum nicht weniger Leistung, kürzere Arbeitszeiten und mehr Urlaub fordern und umsetzen? Soll das alternative Denken auch gesellschaftspolitisch relevant werden, so Michael Brie, muß es in Institutionen verankert sein, die das Prinzip der Revidierbarkeit, der Gewaltenteilung und der Pluralität zur Voraussetzung haben. Es gilt eine neue "regulatory culture" einzufordern, die den Markt wieder in soziale Zusammenhänge einbettet. Wirtschaften, umfassend betrachtet. ist zu wichtig, um es technokratisch orientierten Ökonomen alleine zu überlassen. A. E.

Die Religion des Kapitalismus. Die gesellschaftlichen Auswirkungen des totalen Marktes. Hrsg. v. Willibald Jacobs ... Luzern: Ed. Exodus, 1996. 207 S., DM/sFr 34,-/ÖS 248