Bénédicte Savoy

Die Provenienz der Kultur

Ausgabe: 2019 | 3
Die Provenienz der Kultur

Dieses schmale Buch gibt die Antrittsvorlesung der Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy wieder, welche diese 2017 am Collège de France in Paris hielt. Es bietet fundiertes Wissen zur aktuellen Debatte um den Umgang mit Objekten aus kolonialgeschichtlichem Hintergrund. Provenienz bezeichnet die Herkunft der Objekte, Restitution steht für deren Rückgabe an die ursprünglichen Besitzer. Das Thema findet seit November 2018, auch über Frankreich hinaus, mehr Gehör, als Savoy zusammen mit dem Ökonom Felwine Sarr dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron einen Bericht mit der Forderung beinahe vollständiger Restitution afrikanischer Kulturgegenstände übergab. Im vorliegenden Buch gibt Savoy einen informativen Überblick über die Geschichte des Kulturerbes und die Herausforderung, der sich heutige Museen stellen müssen. Sie nimmt klar Stellung und betont, dass Kultur niemals unabhängig von Einflüssen entstanden, sondern stets Zeugnis einer Verflechtungsgeschichte ist.

Die in Berlin lebende Französin macht die Entfremdung des kulturellen Erbes nahbar, indem sie eine Gemeinsamkeit zwischen der eigenen Identität und der von Kulturobjekten festmacht: Beide Identitäten sind nicht unverrückbar und „natürlich“, sondern beruhen auf einer verflochtenen Geschichte. Zum Vortrag hat sie drei Figuren mitgebracht, die sie besonders mag. Diese faszinieren und erfreuen sie, machen ihr Mut aufgrund ihrer Kunstfertigkeit. Zugleich aber beunruhigen sie, denn Fragen nach ihrer Herkunft führen meist zu Geschichten von Raub, Krieg und Unterdrückung. Viele solcher Figuren blicken uns in unseren Haushalten seit Generationen an, mit einem Blick, der fragt: Woher komme ich, wem gehöre ich? Die Begegnung mit Kulturobjekten erzeugt immer auch einen Blickaustausch, der positiv beunruhigt: Positiv, weil er zum Forschen antreibt und dafür sorgt, die Begegnung als eine sich ständig erneuernde erfahren zu können.

Vor dem Hintergrund einer Verflechtungsgeschichte, die eine Abgeschlossenheit nationaler Identitäten ausschließt, möchte Savoy einerseits versuchen, anhand kultureller Objekte darüber nachzudenken, welche Möglichkeiten es gäbe, eine transnationale Geschichte Europas zu schreiben. Andererseits ist es ihr Anliegen, „forschend daran [zu] erinnern, dass Museen und Sammlungen, unser ‚Kulturbesitz‘, grundlegende anthropologische und politische Akteure der Vergangenheit und unserer Zeit sowie eine Herausforderung für die Zukunft darstellen“ (S. 19).

Die Geschichte des Kulturerbes

Ein Teil des Buches widmet sich dem Überblick der Geschichte des Kulturerbes. Im Ancien Régime, als Kunstsammlungen der ästhetischen Erziehung des Menschen dienen, kommen mit wissenschaftlichen Expeditionen immer mehr „Exotica“ auf den Kunstmarkt, wo sie etablierte Gewissheiten – Was ist Kunst? – zu unterlaufen beginnen. Mit der französischen Revolution beginnt zudem eine Verknüpfung von materiellem Besitz und intellektueller Aneignung: Manche fordern sogar, in Paris alle Objekte zu versammeln, um dort die Hoheit ästhetischer Erziehung innezuhaben. Sinnliches Begehren, Verlangen nach Wissen und Wunsch nach Herrschaft werden untrennbar gekoppelt. Weiterhin erwirken Eroberungs- und Handelskriege die Hochkultur Europas, während dieses den Herkunftsländern jegliche Kultur abspricht (Beispiel der Benin Bronzen, die als Rätsel gelten, statt deren hohen kulturellen Wert anzuerkennen). Ende des 19. Jahrhunderts werden immer mehr Gegenstimmen und Restitutionsforderungen aus den Herkunftsländern laut. Das Positive an der immensen Verstreuung der Kulturschätze sei, so Savoy, die enorme ästhetische Befruchtung, die zu einem „Daseinsbewusstsein und Geschmack für das Andere“ (S. 47) führte und das Museum geradezu als „Haus des Geistes“ (S. 48) erscheinen lässt. Das Negative aber bleibt die Last der Sieger der Geschichte, die die erdrückende Erbschaft zu tragen haben. Allein Empathie und gegenseitiges Vertrauen könne Entlastung bringen.

Im letzten Teil des Buches stellt die Kunsthistorikerin ihre Wünsche im Umgang mit dem kulturellen Erbe vor: Zunächst sei es wichtig, die Verluste stets in ihrer Verschiedenheit zu sehen. Dazu bedürfe es einer intensiven Erforschung der Translokationen von Kulturgütern, „und die Frage der Restitutionen muss deren historischen, politischen, kulturellen, ideologischen und symbolischen Bedingungen immer besonderes Augenmerk schenken“(S. 53).

Ebenso dürfe man aber nicht vor unangenehmen Themen zurückschrecken. Sie schlägt hier als Zeichen des Respekts und der Freundschaft gegenüber jenen, die unsere Kulturen bereichert haben, eine „kulturgeschichtliche Innenschau“ (S. 54) vor. Anstelle von Selbstgeißelung und übereilten Restitutionen soll diese für ein kollektives Bestreben stehen, „die Objekte in unseren Museen wieder mit der Geschichte ihrer Herkunft zu verbinden – und mit den Menschen, die heute dort leben, wo die Objekte früher einmal waren“ (S. 54). In vier Dimensionen beschreibt Savoy diese Innenschau als die Beachtung des Einflusses von Sprache, als eine transparente Provenienzpolitik, als eine Vielstimmigkeit in der Verständigung um die Zukunft der Museen, sowie als eine verantwortungsvolle Freude am Gestalten derselben.

Savoy schließt mit der Überzeugung, dass Kulturgüter letztlich nicht von Herkunft und Besitz determiniert seien, sondern als (beinahe) unsterbliche Objekte, oder besser Subjekte, uns Menschen gegenüberstehen. Mit dem Philosophen Achille Mbembe gesprochen seien wir daher alle Eigentümer und alle verantwortlich.

„Bericht über die Rückgabe des afrikanischen Kulturerbes“

Der gemeinsam mit Felwine Sarr im Jahr darauf erarbeitete „Bericht über die Rückgabe des afrikanischen Kulturerbes“ schließt sich dieser Darlegung an und fordert klar Restitutionen von Frankreich an Afrika. Die entfachte Debatte enthält kaum direkte Stimmen gegen eine Rückgabe von Objekten aus kolonialen Gewaltverhältnissen. Allerdings besteht beispielsweise darin eine Gefahr, in übereilten Rückgaben die Wünsche der Herkunftsgesellschaften sogar zu übergehen; eine andere besteht in dem Glauben, durch Rückgaben Schuld begleichen zu können. Koloniales Vergessen würde dann sogar gefördert. Einwände kommen von vielen Museen, die den Verlust ganzer Bestände fürchten. Savoy rückt von solchen Befürchtungen ab; das wäre der Wunsch von niemandem. Wichtig sei, den afrikanischen Gesellschaften Zugang zu ihrem eigenen Kulturerbe zu ermöglichen. Das Humboldtforum in Berlin ist besonders ins Licht der Diskussion gerückt, da es sich von den Forderungen zu distanzieren scheint. Verantwortliche machen zwar deutlich, dass die Restitutionsdebatte dem Konzept des Forums keineswegs widerspreche, bestehen aber auf einer exakten, fallweisen Provenienzforschung. Denn nicht immer würden Herkunftsgesellschaften Kulturgüter zurückfordern, sondern vielmehr darauf bestehen, diese in Europa auszustellen, um dort präsent zu sein. In Savoys Darstellung wird jedoch keineswegs die Komplexität der Provenienzen übergangen; diese stehe der Notwendigkeit von Rückgaben aber auch nicht im Weg. Die Museen hätten vielmehr eine Chance zur Weiterentwicklung und würden mit Rückgaben eine „neue Beziehungsethik zwischen Nord und Süd“, wie es im Untertitel des Berichts heißt, begründen helfen.

Das Buch empfiehlt sich allen, die über die Möglichkeit eines universalen Menschheitserbes nachdenken, und allen, die dazu den viel diskutierten Standpunkt von Bénédicte Savoy und ihren MitstreiterInnen besser verstehen – oder den eigenen formen wollen.