Raphaël Glucksmann

Die Politik sind wir

Ausgabe: 2019 | 4
Die Politik sind wir

Raphaël Glucksmann hat bereits ein bewegtes berufliches und politisches Leben hinter sich. Zuletzt erlangte er Bekanntheit, als er versuchte, ein linkes Bündnis für die Wahlen zum Europäischen Parlament in Frankreich zu etablieren. Der „Place Publique“ umfasste schließlich mehrere mitte-links Parteien und Unabhängige. Für einen relevanten Stimmenanteil reichte das nicht.

Glucksmann legt sein Credo in dem Buch „Die Politik sind wir“ nun auch auf Deutsch vor. Versuchen wir hier, seine Ideen im Raster von Karl Polanyi einzuordnen. Polanyi sieht seit vierhundert Jahren eine Wellenbewegung, in der die marktwirtschaftliche Organisation des Lebens schubweise vordringt und immer wieder auf eine Gegenbewegung stößt, die andere Formen des Austausches unter Menschen, nennen wir dieses Sammelsurium „Gesellschaft“, verteidigt. In Frankreich würde man hier von der „Republik“ sprechen, die den Austausch der Gleichen untereinander erlaubt.

Glucksmann hat folgenden Ansatz: Der Gegensatz zwischen Marktorientierung und Verteidigung der Gesellschaft wird halbwegs deckungsgleich in den Gegensatz von „liberal“ und „demokratisch“ übersetzt. „Und gerade in ihrer hybriden Natur liegt die Kraft der liberalen Demokratie. Das permanente Oszillieren zwischen den beiden Polen ermöglicht unseren Gesellschaften, frei zu sein und sich weiterzuentwickeln. Sie leben im Rhythmus des Hin und Her zwischen zwei Extrempunkten: der kollektivistischen Utopie auf der einen und der maximalen gesellschaftlichen Individualisierung auf der anderen Seite.“ (S. 11f.)

Aber es gibt ein Problem: „Wenn der Widerspruch, der unser System antreibt, nicht mehr dynamisch ist, wenn also einer der Pole zu stark wird und nicht mehr ausgeglichen werden kann, ist entweder die Demokratie nicht mehr liberal oder der Liberalismus nicht mehr demokratisch – es kommt zur Krise.“ (S. 12) Genau das ist passiert: „Mit der theoretischen Behauptung des homo oeconomicus und dem Sieg im Kampf der Ideologien hat der Neoliberalismus eben diesen homo oeconomicus konkret hervorgebracht. (…) Dennoch müssen wir uns eine Frage stellen, die manche für nebensächlich halten mögen: Ist die Vorherrschaft des homo oeconomicus in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens mit Demokratie und Republik vereinbar?“ (S. 34f.)

Glucksmann sieht den Widerstand gegen diesen Status quo geschwächt. Die Ideologie des Individualismus habe zu einer Vereinsamung der Menschen in der Gesellschaft geführt, die Kollektiven wie Gewerkschaften und ähnlichem die Basis entziehe, aber Ersatzidentitäten (Glucksmann), zum Beispiel religiöse, stärke. Damit werde der Idee der „Republik“ der Boden entzogen.

Die Reaktion darauf spaltet: Die republikanische Linke bekämpft die neuen „Ersatz“-Identitäten wie den Islamismus, die von Glucksmann als „differenzialistisch“ bezeichnete Linke feiert die anzuerkennenden Unterschiede. Glucksmann bezieht klar Position: „Das Anerkennen von Unterschieden in ein politisches Programm zu übersetzen, verleiht dem, was gerade passiert – dem Zusammenschluss der Ähnlichen und dem Ausschluss der Anderen den Anstrich des Fortschrittlichen. Und er erweist sich langfristig als Katastrophe für die Minderheiten, die man zu verteidigen vorgibt. Wenn der politische Kampf zu einer Frage identitärer Anerkennung wird, kommt irgendwann unausweichlich der Tag, an dem die größere ‚Gemeinschaft‘ sich ihrerseits in identitärer Weise selber bekräftigt. Damit tritt man in die Ära des ‚Mehrheitsvolkes‘ ein.“ (S. 58f.) Glucksmann: „Um den republikanischen Gedanken, dass Unterschiede keine Rolle spielen dürfen, in die Tat umzusetzen, müssen wir unerbittlich gegen jede Form von Diskriminierung vorgehen, jene gesellschaftlichen Waffen mit denen man nach Hannah Arendt töten kann, ohne Blut zu vergießen. Ob sexistisch, antisemitisch oder rassistisch – Diskriminierung verhindert, dass die abstrakte Idee des Staatsbürgers konkrete Gestalt annehmen kann. Sie untergräbt die Republik.“ (S. 108) Die moderne republikanische Idee ist der Versuch, ein „Wir“ neu zu definieren, ohne andere auszuschließen. Dies könne nur an einem öffentlichen Platz („place publique“, daher die Bezeichnung der politischen Formation Glucksmanns) stattfinden, zu dem alle Zugang haben. Elemente des neuen republikanischen Programms sind politische Partizipation, Grundeinkommen, allgemeiner Zivildienst zugunsten der Republik und eine ökologische Politik.

Glucksmann zeichnet das Programm einer Rückgewinnung des Gleichgewichts zwischen Markt und Gesellschaft, nicht der Überwindung des Spannungsverhältnisses. Und in der Diskussion zwischen jenen, die sich der Verteidigung der Gesellschaft verschrieben haben und jenen, die sich für den Zugang zu den Vorteilen der Marktgesellschaft für diskriminierte Gruppen einsetzen, hofft Glucksmann, dass die identitären Gegenbewegungen sich nach einer Läuterung der republikanischen Seite anschließen.