Die Kunst vernetzt zu denken

Ausgabe: 2000 | 2

Nachdem sich F. Vester zuletzt in umfangreicheren Publikationen mit innovativen und systemisch fundierten Überlegungen zu Auswüchsen und Therapieansätzen der kollektiven Verkehrsneurose zu Wort gemeldet hatte, bietet er mit seinem neuen Werk eine Summe seiner Erfahrungen und Vorschläge, wie den nachweislich suizidalen Tendenzen unseres kausal-linearen Denkens und Handelns zu begegnen sei. Wenn uns, so der „Vater des vernetzten Denkens“, keineswegs moralisierend, sondern vielmehr gelassen zuversichtlich argumentierend, daran gelegen ist, auf diesem Planeten auch dauerhaft zu behaupten, brauchen wir eine „neue Sicht der Wirklichkeit“. Denn nur mit einer ökologischen, auf den Zusammenhang des Vielfältigen ausgerichteten Strategie können wir damit rechnen, als Partner in der erfolgreichsten Firma aller Zeiten – dem Leben ‑ akzeptiert zu werden:

 

Von der Natur zu lernen, bedeute daher, sie nicht nach den Prinzipien der Technosphäre zu verbessern, wie dies derzeit auch in der Gentechnologie versucht wird, sondern vielmehr ihre Erfolgsrezepte zu den unseren zu machen. Die vorherrschende un-systemische Erfassung von Komplexität habe sechs Fehlhaltungen zur Ursache, diagnostiziert Vester: falsche Zielbeschreibungen, unvernetzte Situationsanalyse, irreversible Schwerpunktbildung, unbeachtete Nebenwirkungen sowie die Tendenz zur Übersteuerung und autoritärem Verhalten sind die Ursache unseres zunehmend letalen Problemgemenges. Insbesondere die Vorstellung, eine immer bessere Kenntnis des Details und permanentes Wachstum garantierten Erfolg, gelte es zu revidieren. Anstatt uns also im „Klassifizierungs-Universum“ (M. Maruyama) mit immer leistungsfähigerer, aber grundlegend falsch konzipierter Technologie hoffnungslos zu verlieren, gilt es, auf Relationen, und Relevanz zu achten und das Prinzip der Unschärfe zu befolgen, wie es z. B. in der „Fuzzy logic“ zur Anwendung gelangt.

Dass die Erfassung und Gestaltung von Komplexität nicht kompliziert ist, verdeutlichen die ausführlich erläuterten acht Grundlegenden der Biokybernetik (S. 127), die in jedem System gelten: Es sind die Dominanz negativer vor positiven Rückkopplungen, die Unabhängigkeit von quantitativem Wachstum, Funktionsorientierung an Stelle von Produktorientierung, Nutzung vorhandner Kräfte nach dem Jiu-Jitsu-Prinzip, die Mahrfachnutzung von Produkten, Funktionen und Organisationsstrukturen sowie  Recycling, Symbiose und Feedback-Planung.

Die Wirkungsweise und konkrete Anwendbarkeit dieser Prinzipien erläutert Vester ausführlich anhand des von ihm entwickelten „Sensitivitätsmodell“™, das, ausgehend von einem einfachen „Papiercomputer“ nunmehr zu einem leistungsfähigen und praxisorientierten Instrument systemischer Problemerfassung und Strategieentwicklung ausgebaut wurde. Ausgehend von der Systembeschreibung und der interaktiven Entwicklung einer überschaubaren Größe relevanter Variablen, der zunehmend komplexen Erfassung der Wechselwirkungen und schließlich der Erprobung in Form von Simulation (Wenn-dann-Prognosen) und Policy-Test, erläutert Vester dieses innovative Modell und schildert dessen erfolgreiche Anwendung anhand konkreter Beispiele. Das Spektrum reicht dabei vom Risikomanagement in einer Papierfabrik über ökologische Stadt- und Verkehrsplanung in China und Malaysia (u. a. durchgeführt von der österreichischen Firma AREA, Graz) bis hin zur Konzeption der „Hermannsdorfer Landwerkstätten“ bei München, dem Einsatz im Gesundheitswesen oder im Bereich Innere Sicherheit und Konfliktlösung. Weitere Informationen zu Literatur- und Projektlisten, Lizenznehmern und Lieferumfang und -konditionen unter www.frederic-vester.de

Frederic Vester hat mit diesem Buch einen weiteren Meilenstein zur Förderung und praktischen Anwendung systemischen Denkens vorgelegt. Es ist zu hoffen, dass es die verdiente Aufmerksamkeit nicht nur von Entscheidungsträgern aus Politik und Wirtschaft findet, sondern darüber hinaus zu einer neuen Kultur der zukunftstauglichen Problemlösung beiträgt. Sie zu befördern, sind wir gemeinsam aufgefordert. W. Sp.

Vester, Frederic: Die Kunst vernetzt zu denken. Ideen und Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität. Stuttgart: Dt. Verl.-Anst., 1999. 315 S., DM 44,- / sFr 41,- / öS 321,-