Die Geflügelschere oder die Erfindung der Tierliebe

Ausgabe: 1993 | 3

Der Autor eröffnet eine ungewöhnliche Perspektive auf unsere Kultur, die die industrielle Fleischproduktion als normal akzeptiert. Doch hinter diesem scheinbar mühelosen Akzeptieren wird in den Schlachthöfen etwas verborgen, was die heutige Gesellschaft - im Gegensatz zu jener des 19. Jahrhunderts - nicht mehr sehen will. Der Schlachtvorgang, das Töten der Tiere wird unsichtbar, wird aus dem öffentlichen Diskurs verbannt. Just mit der industriellen Fleischproduktion beginnt auch unsere Tierliebe. Die Kuscheltierchen und mystifizierten Freunde des Menschen finden sich seither auf der Sonnenseite menschlicher Fürsorge, das Schlachtvieh wird zur Massenware. In Zoos werden die Tiere gehegt und gepflegt, der Schlachtvorgang in den Fleischerfabriken wird technisch perfektioniert, um den Tieren einen kurzen, schmerzlosen Tod zu gewähren. Noch mehr: "Der Tod findet nicht statt." Die Tiere werden etwa in Gaskammern betäubt, um sie - vor ihrer Zerstückelung - umstandslos und vollständig ausbluten lassen zu können. Der Fleischkonsument nimmt kein getötetes Tier mehr wahr, sondern fixfertig abgepackte Fleischportionen. Die Schilderungen Bernhard Kathans sind ein lehrreiches Stück zur Kulturgeschichte der Massenzivilisation, die ihre Wirkung nicht verfehlen. So kann nicht ausgeschlossen werden, daß dem Leser das nächste Schnitzel im Halse stecken bleibt. Der Umgang mit Tieren in Schlachthöfen erinnert in beklemmender Weise daran, daß der Mensch nicht davor gefeit ist, mit seinesgleichen ähnlich zu verfahren. Zudem verweist der Autor auf den Umstand, daß Massentierhaltung und -verwertung auf möglichst grenzenlose Transportmöglichkeiten angewiesen sind. Bernhard Kathan hat sein Buch hauptsächlich Sigfried Giedion und dessen Werk" Herrschaft der Mechanisierung" gewidmet. Das erklärt vielleicht die sicherlich originelle Perspektive, aber auch das Manko, daß zahlreichen aufgestellten Behauptungen die Begründungen fehlen. Hätte sich Kathan an Lewis Mumfords "Mythos der Maschine" orientiert, wäre die Diskursrelevanz des Buches wahrscheinlich deutlich höher. G. W.

Kathan, Bernhard: Die Geflügelschere oder die Erfindung der Tierliebe. Innsbruck: Österr. StudienVerl., 1993. 111 S., DM 21,50 / sFr 18,30/ öS 168