Die Frage der sozialen Ungleichheit

Ausgabe: 2001 | 3

Die Vorschläge von Anthony Giddens für einen „dritten Weg“ – der britische Politologe ist Vordenker von Tony Blairs „New Labour“ und hat maßgeblichen Einfluss auf die Politik der US–Demokraten sowie die europäischen Sozialdemokratien – sind von traditionellen Linken wie naturgemäß auch von christdemokratischer bzw. neoliberaler Seite teils heftig kritisiert wurden. Für Giddens Grund genug, sich dieser Kritik zu stellen und seine Vorstellungen einer „modernen Linken“ zu präzisieren. (Der Originaltitel: „The Third Way and its Critics“ trifft das Anliegen des Autors und den Inhalt des Buchs besser als der nur einen (wichtigen) Aspekt akzentuierende Titel der vorliegenden (darüber hinaus aber ausgezeichneten) Übersetzung.

Ausgehend von eher punktuellen Einwänden bis hin zu Oskar Lafonatains rigidem Diktum, der dritte Weg sei nachgerade ein „Holzweg“, da er sich der Ideologie des freien Marktes unterwerfe und die sozialen, der Aufklärung verpflichteten Werte Europas verrate, wendet sich Giddens vehement gegen eine von Links wie Rechts initiierte „Befreiungspolitik“, die einerseits in „freiem Markt“ und Globalisierung, anderseits in Staat, Bürokratie oder dem Votum für multikulturelle Gesellschaften jeweils „das Böse“ erkennt und verbittert dagegen ankämpft.

Zwar sind Märkte, so der Politologe, ohne ethisch soziale Rahmensetzung nicht funktionsfähig, Marktwirtschaft und Globalisierung aber unumkehrbar. Um so mehr gilt es, sie umzugestalten, zu erweitern und auszubauen. Insbesondere durch ein Gleichgewicht der Kräfte von Marktwirtschaft, Staat und Zivilgesellschaft, ist Giddens überzeugt, kann das zentrale Anliegen der modernen Linken verwirklicht werden, das darin besteht, Ungleichheit zu verhindern oder, positiv formuliert: soziale Gerechtigkeit herzustellen (vgl. S. 48).

Als Grundsätze einer Politik des dritten Weges, die im Einzelnen ausgeführt werden, definiert der Autor darüber hinaus die Akzeptanz der politischen Veränderungen seit 1989, die Entwicklung eines neuen Gesellschaftsvertrags („Keine Reichte ohne Pflichten), die Umsetzung einer ambitionierten Wirtschaftspolitik (Marktwirtschaft, Verschlankung des Staates mit dem Ziel der Steigerung seines Gestaltungsspielraums, Neuorientierung der Wohlfahrt), die Entwicklung einer pluralistischen Gesellschaft auf egalitärer Basis (Förderung von Chancengleichheit und  „sozialer Fähigkeiten“ als Voraussetzung von Selbstverwirklichung und der Verhinderung „sozialer Exklusion“) sowie schließlich den kritisch–konstruktiven Umgang mit der Globalisierung. Eine „zweite Demokratisierungswelle“, so Giddens, „muß in die Breschen springen, die die Globalisierung geschlagen hat. Sie wird (...) in der Regel eine Übertragung der Macht an die Kommunen und Regionen mit sich bringen – ebenso wie den Transfer der Macht an überstattliche Ebenen“ (S. 72). Den Nationalstaaten räumt der Verfasser (entgegen der vorherrschenden Auffassung) im Kräftespiel der Globalisierungsakteure die größte Bedeutung sowie das meiste Potenzial ein, da sie u. a. die Gebietshoheit ausüben und legislative Gestaltungsmöglichkeiten haben. Zum anderen, so argumentiert Giddens in Richtung Zivilgesellschaft und Wirtschaft, „bedeutet Bürger etwas anderes, als Konsument zu sein, und Freiheit darf man nicht mit der Freiheit gleichsetzen, kaufen und verkaufen zu können.“ (S. 181).

Das ambitionierte Anliegen, Grundsätze und Perspektiven der modernen Sozialdemokratie umfassend zu vermitteln, ist in Teilbereichen gelungen. So unterbreitet Giddens etwa interessante Details zur Reform der Sozial–, Familien–, und Wirtschaftspolitik , wobei er u. a. Möglichkeiten der (Selbst)kontrolle global agierender Untenehmen sondiert oder den Gewerkschaften (international orientierte) Allianzen und Kooperationspartner (NGOs) empfiehlt. Einige Aspekte, etwa zur Differenz von „alten und neuen Kriegen“ sind eher schematisch dargestellt und greifen zu kurz.

Dennoch ist Giddens der Nachweis gelungen, dass die Politik des dritten Weges „keine beliebig zusammengestückelte und schnell verschwindende Programmatik“ darstellt. Bleibt abzuwarten, ob sie „in den kommenden Jahren auf ähnliche Weise den Mittelpunkt politischer Debatten bilden wird, wie dies bis vor kurzem der Neoliberalismus und die alte Sozialdemokratie taten“. (S. 7f.) Sich damit auseinander zu setzen lohnt allemal. W. Sp.

Giddens, Anthony: Die Frage der sozialen Ungleichheit. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2001. 196 S. (Edition Zweite Moderne) DM 32,– / sFr 29,80 / öS 234,–