Die elf neuen Zielgruppen – wie sie leben, was sie kaufen

Ausgabe: 2009 | 4

Für die Marktforschung waren wir Konsument-Innen bis vor kurzem noch als sogenannte Zielgruppe interessant. Alter, Einkommen, Bildung, Geschlecht und soziale Prägung waren dafür ausschlaggebend, welcher der Zielgruppen wir zugerechnet wurden. Angesichts der Paradoxien und Überkomplexitäten des modernen Lebens ist diese Kategorisierung nun aber zunehmend obsolet geworden. Fixe Lifestyles gehören nach Auskunft der Autoren Eike Wenzel und Oliver Dziemba vom Zukunftsinstitut der Vergangenheit an. Mit dem „Trend-Naming“ der letzten Jahre scheint aber gerade das Zukunftsinstitut einer gewissen Schablonisierung Vorschub geleistet zu haben. Jetzt offenbart sich den Trendforschern Zukunft plötzlich in Form individueller Lebensstile und die so genannte Normalbiografie gehört der Vergangenheit an. Heute sind „Multigrafien“ angesagt, und glaubt man den Autoren, so wird die Macht der Situation, in denen Menschen jenseits ihrer Wertvorstellungen zu Veränderungen ihrer Lebensführung veranlasst werden, immer bedeutender.

 

Welche Lebensstiltypen sind aber nun tatsächlich relevant für zukünftiges Marketing? Auffallend sind zunächst einige Widersprüche. Die Rede ist beispielsweise von der Re-Traditionalisierung der Familie, bei der durch fehlende Kinderbetreuungsplätze und der damit verbundenen Unvereinbarkeit von Familie und Beruf junge Paare wieder dem traditionellen Muster – Mann arbeitet Vollzeit, Frau kümmert sich ums Kind – folgen. Gleichzeitig wird der Lebensstil-Typ des „Super-Daddy“ propagiert, bei dem die Erziehungs- und Gefühlsarbeit schon bald zum männlichen Alltag gehören wird. Mit Blick auf seriöse sozialwissenschaftliche Daten deutet freilich nichts, aber auch gar nichts, darauf hin, dass die Männer eine solche Revolution vollziehen werden. Und auch die Bemühungen, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern bewegen sich – von einigen finanziellen Steuer- bzw. Wahlgeschenken einmal abgesehen –bekanntermaßen in bescheidenem Rahmen.

 

Eine weitere Unschärfe betrifft den Anspruch der vorliegenden Studie, die Ungewissheit und Planungsunsicherheit von konsumrelevanten, individuell geprägten Entscheidungen minimieren zu können. Hier wird einmal mehr suggeriert, man könne seriöse Angaben über die Zukunft machen und die „Macht der Situation“ vorhersehen. Auch wenn man nicht Hellseher ist, sind neben Alter, Einkommen oder Geschlecht viele weitere Parameter zu berücksichtigen. Es werden aber auch Nonsens-Lebensstile wie die „Latte-Macchiato-Familien“ präsentiert, die „ihren gewohnten urbanen Lifestyle – Latte Macchiato im Straßencafé, Pizzaservice, Cocktailbar – ins Familienleben transferieren“ (S. 75).

 

Die junge Generation des 21. Jahrhunderts als künftige Käuferschicht entwickelt nach Auskunft der Autoren zunehmend Realitätssinn und Pragmatismus und möchte ihre Zukunft mit gestalten. Dabei gelte es, Strategien zu entwickeln, wie man am besten mit den Unwägbarkeiten des modernen Lebens umzugehen vermag. Alles in allem bleibt es bei allgemeinen Formulierungen: „auf der Suche nach Anschluss und Gemeinschaft werden die CommuniTeens (Jugend zwischen 12 und 19 Jahren, Anm. d. Red.) im Internet fündig“ – ja und? Angepriesen als die junge Avantgarde des Web 2.0 gilt die Jugend – wie immer schon – als relevante Zielgruppe nicht nur für das Freizeitverhalten, sondern auch für Shopping.

 

In der Rush-Hour des Lebens, also in der Zeit der sogenannten Mid-Ager, werden die Rollen ebenfalls neu verteilt. Charakteristisch dafür sind neben den bereits erwähnten Super-Daddys die Netzwerk-Familien sowie selbstbewusste Frauen um die 40, die die öffentlichen Räume in Politik, Wirtschaft und Kultur erobern. Überaus beliebt sind auch die neuen Alten – von Silverpreneuren über Super-Grannys bis hin zu der Greyhopper-Bewegung –, denen inzwischen längst eigene Studien („Silver Generation“) gewidmet wurden. Und immer wieder beobachten die Forscher des Horx-Zukunftsinstituts sogenannte Rollbacks zu klassischen Werten wie Familie und Natur, Treue, Authentizität und Freundschaft. In Summe, eine Ansammlung von unverbindlichem Orakel in gewohntem New-Speach.

 

Sinnmärkte der Zukunft

 

Überhaupt werden sich unsere Märkte in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren in sogenannte „Lebensqualitätsmärkte“ verwandeln, d. h. eine neue Konsumkultur der Nachhaltigkeit, der Qualität, der Werthaltigkeit und des Warum wird entstehen, weiß Eike Wenzel in der neuesten Studie des Zukunftsinstituts. Wir werden immer häufiger Produkte und Dienstleistungen kaufen, die für uns besonders wertvoll sind, uns Bedeutung versprechen, Lebensorientierung geben, unser Leben in einem größeren Kontext der Zusammengehörigkeit erscheinen lassen und zudem eine symbolische Bedeutung haben. A. A.

 

Dziemba, Oliver; Wenzel, Eike: Marketing 2020. Die elf neuen Zielgruppen – wie sie leben, was sie kaufen. Frankfurt/M. (u. a.): Campus, 2009. 212 S., € 39,90 [D], 41,10 [A], sFr 67,- ; ISBN 978-3-593-38826-7