Deutschlands nächste Jahre

Ausgabe: 2010 | 1

Zukunftsforscher aus ganz Deutschland sollten sich auf die Reise für das Deutschland von morgen machen. Eingeladen hatte das Bundeskanzleramt (der letzen Regierung); es gab Hearings und Workshops sowie Szenarien dreier Forschungsinstitute – das Szenario „Werte, Leitbilder und Lebensziele“ von Sinus Sociovision, das Szenario „Wirtschaft, Arbeit, Bildung“ der Prognos AG sowie das Szenario „Wohlstand und Lebensqualität“ der BAT Stiftung für Zukunftsfragen. Der Journalist Peter Felixberger wurde gebeten, unterstützt von der Vodafone Stiftung, daraus ein Buch zu machen. Er bemüht das Bild eines „Rucksacks für Deutschland“ – gemeinsam sollte ausgelotet werden, was hineinkommt und was zurückgelassen wird.

 

 

 

Packstücke

 

Kommen wir zu den „Packstücken“, die aus den Expertenhearings und Zukunftsszenarien gefiltert werden – und in die der Autor aber wieder zahlreiche weitere Befunde zur Untermauerung seiner Gedanken einfließen lässt (was der Lesbarkeit nicht immer dient). „Selbstbestimmung, Individualisierung“, „Freiheit“, „Respekt“ und „Kulturelle Vielfalt“ lauten die Packstücke 1-4. Sie bestätigen das Bild des Autors einer kreativen, offenen und lustvollen Zukunftsgesellschaft, in der moderne Patchwork-Biografien das Sagen haben werden. „Leistung“ und „Medienkompetenz“ werden als Packstücke 5 –6 benannt. Auch hier geht es um einen aktiven Zugang zur Welt („Leistung ist ein Menschenrecht und keine Pflicht“, S. 119), die zunehmende Medialiserung des Lebens wird als Chance gesehen, Internet und die neuen „Mikromedien“ bieten die Chance zur Demokratisierung und Pluralisierung der Medienwelt.

 

Packstück 7–12 werden der sich wandelnden Arbeits- und Unternehmenswelt zugeordnet: „Wissen in der Wissensgesellschaft“ (ist selbsterklärend), „Patriotismus“ (sein angebliches Fehlen in Deutschland wird beklagt, da Patriotismus eine Grundvoraussetzung sei, „um sich in der Globalisierung zu behaupten“, S. 142), weiters „Ungleichheit“ (die Spaltung in Kern- und Randbelegschaften werde und müsse (!) bleiben, Zuwanderer werden weiterhin tendenziell schlechtere Jobs übernehmen) „Kreativität, Innovation“ (für die „Lösung von Bedürfnissen“), „Bildung“ (im Sinne von Menschen stark machen, „die Probleme künftig selber zu lösen“ S. 164), schließlich „Alter“ (schrumpfende Gesellschaft als Chance für mehr Qualität).

 

Dem dritten Abschnitt „Wohlstand und Lebensqualität“ werden sechs weitere Packstücke zugeordnet: „Wohlstand“ (Packstück 13) werde zukünftig mehr mit „Wohlbefinden, Wohlbehagen und Wohlergehen“ denn mit materiellem Besitz zusammenhängen („Es geht darum, ob wir selbst bestimmt tun können, was für uns gut ist.“ S. 176); „Maßhalten, Eigeninitiative“ (Packstück 14) werde das Leben und die Wirtschaft verändern („Weniger Kampf, weniger Gier nach Luxus, mehr Gemeinschaft, mehr Kooperation“, S. 190); „Gesundheit“ (Packstück 15) werde zum „wichtigsten Lebensgut“ und damit auch zum „Megamarkt der Zukunft“ (S. 197), zur Förderung des Gesundheitsbewusstseins wird ein (einkommensabhängiger) Selbstbehalt für Krankenkosten vorgeschlagen; „Vertrauen“ (Packstück 16) werde die neue „Selbsthilfegesellschaft“ prägen, „in der die Menschen ihr Leben selbst gestalten, ihre sozialen Netzwerke knüpfen und füreinander eintreten, wo es Not tut“ (S. 201); „Verantwortung“ (Packstück 17) werde zum Schlüsselbegriff der „aktiven Mitmach-Gesellschaft“, Bürgersein demnach bedeuten „Verantwortung zu übernehmen: für sich, für andere und für die Zukunft“ (S. 203); schließlich „Geld“ (Packstück 18), das zwar wichtig bleiben, aber in der Bedeutungshierarchie zurückgestuft wird. Horst W. Opaschowski vom BAT Institut für Zukunftsfragen bringt es auf den Punkt: „Vom Immer-mehr müssen wir uns sicher verabschieden -  nicht aber vom sicheren Einkommen, das auch in Zukunft unverzichtbar bleibt.“ (S. 213)

 

 

 

Resümee

 

Der Band enthält viel Zukunftsweisendes – so ist eine aktive Bürgergesellschaft wohl bedeutend attraktiver als die gegenwärtige konsumgetriebene; eine Balance zwischen Erwerbsarbeit, Familie und Mußezeit gesünder und auch befriedigender als die sich derzeit ausbreitende Stressepidemie; Selbstverwirklichung durch Bildung ist sinnvoller als der Versuch, diese durch Geld- und Güteranhäufung zu erreichen. Diese Leitvisionen erfordern aber freilich politische und wirtschaftliche Rahmendbedingungen, die diese ermöglichen: das Konkurrenzprinzip auf Märkten löst sich nicht auf, nur weil wir es nicht mehr wollen, sondern braucht den Ausstieg aus dem Wachstumszwang; der Zugang zu Teilhabechancen erfordert einen aktiven Staat, der die Benachteiligten fördert; materieller Wohlstand wird in der Regel nicht (nur) „freiwillig“ geteilt, sondern erfordert Umverteilung etwa durch Steuern (die das Vielverdienen weniger lukrativ machen); anders Arbeiten erfordert auch neue Arbeitszeitmodelle und Unternehmen, die dafür offen sind.

 

Problematisch erscheint (mir) die Hinnahme der sozialen Spaltung (Opaschowski warnt immerhin vor den gesamtgesellschaftlichen Gefahren dieser – auch für die Demokratie) und das alleinige Setzen auf die Initiativkraft der Bürger. Lässt dieses doch gerade jene noch mehr unter die Räder kommen, die eben nicht die Kraft aufbringen, alles selbst zu regeln. So kann diese „Chancengesellschaft“ auch den Abbau des Sozialstaats zum Ziel haben. „Das Menschenbild des schwachen Menschen, der vom Staat gegen die Widrigkeiten des Lebens geschützt werden will, hat ausgedient“, schreibt Peter Felixberger provokant. „Die Menschen werden wieder stärker, übernehmen mehr Selbstverantwortung bei der Bewältigung von Risiko und Unglück und arrangieren sich mit der Unberechenbarkeit ihrer Lebensentwürfe. Das macht ihr Leben zwar anstrengender, aber lässt jedem viel Freiheit offen.“ (S. 172) Ansagen wie diese können leicht als Aufforderung verstanden werden, jeder möge sich wieder selbst um sein Schicksal kümmern, was wohl einen enormen sozialpolitischen Rückschritt bedeuten würde. H. H

 

Felixberger, Peter: Deutschlands nächste Jahre. Wohin unsere Reise geht. Hamburg: Murmann, 2009. 239 S., € 18,- [D], 18,50 [A], sFr 31,50

 

ISBN 978-3-86774-071-5