Der Planet der Städte

Ausgabe: 2007 | 4

Im Lauf des Jahres 2007 hat die Menschheit eine Grenze der besonderen Art überschritten. Denn erstmals lebt nun mehr als die Hälfte der ErdenbürgerInnen in Städten, und Jahr für Jahr, so nehmen Statistiker an, kommen mehr als 500 Mio. hinzu. Während es zumindest drei, teils stark divergierende Definitionen des sozialen Phänomens „Stadt“ gibt, steht außer Zweifel, dass sie auch in Zukunft die Menschen an-  und in ihren Bann ziehen wird. Zum einen, weil das Leben auf dem Land zu mühsam oder für viele schlicht nicht mehr möglich ist, zum anderen, weil „Stadt“ auch als Ikone für (die Hoffnung auf) ein „besseres Leben“ steht: Bereits 77 Prozent der Bevölkerung Lateinamerikas sind städtisch geprägt, und bis zum Jahr 2030 dürfte sich der urbane Bevölkerungsanteil Asiens und Afrikas auf mehr als 3,4 Mrd. verdoppeln. Schon vor diesem Hintergrund wird klar: Nachhaltige Entwicklung ist aufs Engste mit der Frage verknüpft, ob und wie es gelingen kann, das Leben der global überwiegend armen Bevölkerung in städtischen Regionen sozial und ökologisch verträglich zu gestalten.

 

In den insgesamt acht Kern-Kapiteln des Worldwatch-Reports, denen fast durchwegs „Städteportraits“ mit ermutigenden Praxisberichten angefügt sind, wird eingangs in genereller Perspektive über die „Urbanisierung der Welt“ berichtet. Dabei zeigt sich, dass die Zukunft des Planeten vor allem auch in den urbanen Zentren entschieden wird. Potenziale, Herausforderungen und Chancen lassen aber auch erkennen, wie ungleich die Lebensbedingungen und –chancen weltweit verteilt sind: Während in hoch entwickelten Ländern rund 80 Prozent des Bruttoinlandprodukts in Ballungszentren erwirtschaftet werden (S. 9), hungern weltweit etwa 852 Mio. Menschen und haben 1,6 Mrd. keinen Zugang zu Elektrizität (S. 77).

 

Eine zentrale Aufgabe urbaner Entwicklung zielt – für uns kaum vorstellbar – auf die Verbesserung der sanitären Grundversorgung in Ballungsräumen, denn die Mehrzahl der Städte mit mittlerem oder niederem Einkommensniveau verfügt nach wie vor über keine Kanalisation. Als vordringlich erachten die Autoren den Aufbau lokal kompetenter Anbieter, die Bereitstellung von Quersubventionen und die Einbeziehung der Bevölkerung, um die Einflussnahme externer Geldgeber so gering wie nur möglich zu halten. Und sie machen deutlich, dass mangelhafte Wasserversorgung nur selten mit ökologischen Problemen, oft hingegen mit Missmanagement zu tun hat.

 

Der „Landwirtschaft in den Städten“ ist ein weiteres Kapitel gewidmet. Dass in diesem über alle Kontinente, Kulturen und sozialen Gegensätze hinaus attraktiven Segment der urbanen Entwicklung im wahrsten Sinne des Wortes noch so manches Pflänzchen zu ziehen ist, zeigt insbesondere der Blick auf Accra (Ghana), Beijing und Vancouver, wo nicht weniger als 44 Prozent der Bewohner Pflanzen und Früchte entweder auf den Dächern und Balkonen ihrer Häuser oder in einem der 17 (!) (interkulturellen) Gemeinschaftsgärten versorgen (S. 134). Dass dadurch der Unwirtlichkeit der Städte entgegengewirkt und kostengünstige Grundversorgung gewährleistet werden kann, liegt auf der Hand.

 

Mit zu den größten Herausforderungen der Stadtentwicklung weltweit zählt die rasante Zunahme des motorisierten Individualverkehrs: „Gab es 1970 auf der Erde 200 Millionen Autos, so ist deren Zahl bis 2006 auf 850 Millionen angewachsen – und sie dürfte sich bis 2030 verdoppeln.“ (S. 166) Dass das Anwachsen der urbanen Bevölkerung jedoch nicht mit dem proportionalen Anwachsen des motorisierten Individualverkehrs gleichzusetzen ist, sondern mit der städtischen Struktur und mit politischer Steuerung zu tun hat, zeigen folgende Daten: Jene 200 Millionen Chinesen, die sich in den vergangenen zehn Jahren in Städten niederließen, verbrauchen zwar pro Person und Jahr 50 Liter Kraftstoff für den persönlichen Transport, doch ist das weniger als die 4,1 Millionen Einwohner Atlantas (der Stadt mit der weltweit größten Autodichte). Dass Lenkungsmaßnahmen sehr wohl zu Verhaltensänderungen führen, beweist u. a. London. Dort ist die Zahl der Autos, die seit Einführung der Citymaut (Congestion Charge)  in die Innenstadt gelenkt werden, um mehr als 50 Prozent zurückgegangen (und die Verwendung der öffentlichen Verkehrsmittel entsprechend gestiegen). Auch in diesem Sektor hat Vancouver einiges zu bieten: Durch die Entwicklung eines effizienten Bus- und Stadtbahnsystems sowie die Förderung des Fuß- und Radverkehrs konnte die Zahl der innerstädtischen Autofahrten pro Tag allein zwischen 1991 und 1994 um mehr als 30.000 (in etwa ein Drittel) gesenkt werden. Gefragt – so die Autoren zusammenfassend – ist politische Führung, verbunden mit der Vision zur Umsetzung umweltfreundlicher Optionen. Dies gilt auch für die weiteren Themen, die in diesem Band erörtert werden, sei es der Einsatz von Energie, die Risikominderung von Naturkatastrophen, die Stärkung lokaler Ökonomien oder der Kampf gegen Armut und für Umweltgerechtigkeit.

 

Vor zu viel Optimismus aber wird gewarnt: Dass viele der mit dem Agenda 21-Prozess verknüpften Erwartungen nicht erfüllt wurden, zeigt der von Gunther Hilliges und Ulrich Nitschke gestaltete einleitende Beitrag. Die beiden Experten für Entwicklungszusammenarbeit machen dafür in erster Linie den aus ihrer Sicht gescheiterten Ansatz der „Runden Tische“ verantwortlich und sehen in der direkten Ausbildung von Städtepartnerschaften das erfolgreichste Modell der kommunalen Zusammenarbeit und Entwicklung. W.Sp.

 

Der Planet der Städte: Zur Lage der Welt 2007. Hrsg. v. Worldwatch Institute u. d. Heinrich Böll Stiftung ... Münster: Westfäl. Dampfboot 2007. 336 S., € 19,90 [D], 20,50 [A], sFr 34,80

 

ISBN 978-3-89691-653-2