Der Islam und die Weltpolitik

Ausgabe: 1993 | 1

Der islamische Fundamentalismus ist das Resultat einer umfassenden Krisensituation, die ihre Ursachen in sich verschlechternden sozioökonomischen Bedingungen und - aus westlicher Sicht - im Legitimitätsverlust undemokratischer Regierungen hat. Das durch die europäische Expansion globalisierte und von antikolonialen Bewegungen aufgegriffene Nationalstaatenmodell hat bei der Befriedigung der Grundbedürfnisse der Bevölkerung versagt. Die europäische Moderne erscheint als Quelle des Elends, der Rückzug auf die autochtone Religion als Weg aus der Krise. Fundamentalisten instrumentalisieren diese Krise, um die Etablierung einer islamischen anstatt der abgelehnten säkularen Ordnung auf nationaler und internationaler Ebene zu propagieren. Die Idee eines islamischen Regierungssystems beruht im Wesentlichen auf einer Neubelebung und Politisierung einiger Aspekte der islamischen Geschichte und der Projektion moderner Anliegen auf diese, bietet aber kein realpolitisches Konzept zur Überwindung der Unterentwicklung der islamischen Länder, sondern zielt nach Ansicht des Autors primär auf die Delegitimierung der Moderne und ihrer auf der geregelten Interaktion säkularer Nationalstaaten basierenden Weltordnung ab. Verbunden mit der Diffusion moderner Militärtechnologie, erscheint die Option zur Errichtung einer islamischen Herrschaft als Bedrohung für den notwendigen internationalen Konsens über Regeln zur friedlichen Konfliktaustragung in einer pluralistisch-toleranten Welt. Die wirtschaftliche und soziale Krise in den islamischen Republiken der ehemaligen UdSSR potenziert die Kräfte des Fundamentalismus ebenso wie die hohe demographische Wachstumsrate an den Grenzen Europas und läßt ihn zu einem globalpolitischen Risikofaktor werden. Im Interesse der Errichtung einer multikulturellen stabilen Weltordnung müssen die Muslime die sozialen und wirtschaftlichen Probleme ihrer Länder bewältigen und sich durch kulturelle Reformen mit der Moderne und ihrer Auffassung der Menschenrechte versöhnen. 46 islamische Staaten gehören zur Weltgemeinschaft. Jeder Versuch, den Islam auf Demokratisierung hin zu reformieren, muß international begrüßt und unterstützt werden, wobei sich der Westen zugleich seiner existenziellen Verflochtenheit mit der Dritten Welt stärker bewußt werden sollte. A-S. P.

Tibi, Bassam: Die fundamentalistische Herausforderung. Der Islam und die Weltpolitik. München: Beck, 1992.229 S. (Beck'sche Reihe; 484) DM 22,-1 sFr 18,701 öS 171,60