Der große Beschleuniger

Ausgabe: 2016 | 2,3
Der große Beschleuniger

virilioPaul Virilio hat ein Hauptthema: Die Kritik der Geschwindigkeit. Diesem Thema bleibt er treu. In dem Heft „Der Große Beschleuniger“ bezieht er in drei Essays Stellung. Der Titel bezieht sich nicht zufällig auf den „Large Hadron Collider“ in Bern, den er als Symbol der zirkulären Ausweglosigkeit sieht. Virilio sieht eine Entwicklung, die er als Beschleunigung der gemeinsamen Realität bezeichnet. Das alte Kalendarium der Agrargesellschaften mit der selbstverständlichen und auch verlässlichen Abfolge der Jahreszeiten wurde vom Rhythmus der Industrie abgelöst. Rituale und Religion spielen keine Rolle mehr, Feiertage werden rückgebaut. Der Rhythmus der Maschinen, gekoppelt mit den Anforderungen durch die Ökonomie bestimmen das Leben. Die Informationstechnologien heben zudem die Geschwindigkeit, sorgen für Verfügbarkeit rund um die Uhr. Virilio erzählt ein frappierendes Beispiel: Von 270 Nonnenklöstern in Frankreich wehren sich nur mehr 25 gegen einen Internetanschluss.

Neue, schnellere Rhythmen, die Auflösung gemeinsamen Zeitempfindens, das Unterwerfen unseres Lebensablaufs unter die Anforderungen der Maschinen werden aber auch noch verschärft durch ein Ausleuchten der Rückzugsbereiche. „Warum treiben wir diese verhängnisvolle Überbelichtung des Privatlebens, die sich heute ausdehnen, soweit das Auge reicht, nicht noch weiter? Nach den unbeweglichen Kameras in den Kreuzungen, die für die Verkehrssicherheit sorgen sollen, oder jenen im Eingangsbereich der Wohnhäuser, läutet das Couch-Surfing schon das letzte Stadium der Entblößung ein, wenn dann der Inspektor von Google Home mit tragbaren Kameras bewaffnet zu uns nach Hause kommt, damit alle die komfortable Einrichtung bestaunen können, die die Low-Cost-Touristen dann dank der Gastfreundschaft der sozialen Netzwerke des Internet nutzen!“ (S. 51)

Der suizidale Zustand, der früher ein psychologischer war, kann also jetzt zu einem soziologischen werden, wenn der Modus der Zeiteinteilung und des Rhythmus dermaßen durcheinander gerät, dass er in größeren Gemeinschatten ständige Unruhe und Angstzustände auslöst, was in Telekommunikationsfirmenschon registriert wurde (vgl.S. 57).

Virilio, Paul: Der große Beschleuniger. Wien: Passagen, 2015. 83 S.,  ISBN 9-783609-201855