Das Projekt Europa

Ausgabe: 2016 | 2,3
Das Projekt Europa

Wohin des Wegs, Europa?

Peter Grag Kielmansegg: Wohin des Wegs, Europa?Steht Europa vor dem Zerfall in die Kleinstaaterei oder gehört unserem Kontinent die Zukunft? Wie kann es weitergehen mit dem europäischen Projekt? Sind die fortschreitende Integration und die Bewahrung einer substanziellen Demokratie überhaupt miteinander vereinbar? Fragen über Fragen, denen sich der „Friedensnobelpreisträger“ EU stellen muss, wenn es gelingen soll, den Abstieg des Kontinents zu verhindern. Einblicke in die aktuelle Stimmungslage und die Schwierigkeiten, denen sich Europa gegenüber sieht, vermittelt Alfred Auer anhand einiger aktueller Publikationen.

Die publizistischen Interventionen in sieben Kapiteln des emeritierten Professors für Politische Wissenschaften, Peter Graf Kielmansegg, machen deutlich, dass das europäische Projekt in vielerlei Hinsicht der kritischen Begleitung bedarf. Wie fragil die Grundlagen dieses Konstrukts sind, sieht man im Streit über eine gemeinsame Flüchtlingspolitik.

Zunächst benennt der Autor neben einigen Erfolgen auch die Schwachstellen des Projekts. Auf der Aktivseite stehen die Friedenssicherung und die Wohlstandsmehrung, wobei letztere nach der Finanzkrise durchaus ambivalent zu betrachten sei, so Kielmansegg. Dem stehen gleich vier Passivposten gegenüber. Der EU sei es bisher nicht gelungen, die Fähigkeit zu gemeinsamem Handeln nach außen zu entwickeln. „Mehr Europa“ als Antwort auf die Krise der Währungsunion würde mitnichten einen Zuwachs an Handlungsfähigkeit nach außen bedeuten. „Das ist für eine Föderation von Nationalstaaten mit hoch entwickelter, historisch tief verwurzelter, im Bewusstsein ihrer Bürger festverankerter Eigenständigkeit alles andere als eine vernünftige Entwicklung.“ (S. 23) Die zweite Schwachstelle sei das fehlende Subsidiaritätsprinzip. Dieses spiele in der Verfassungswirklichkeit kaum eine Rolle. Zudem bleibt der Versuch einer genaueren Zuweisung der Zuständigkeiten sehr vage. Der dritte Passivposten ist, dass die Erweiterung (mit Kroatien sind es inzwischen 28 Mitglieder, 35 sind im Visier) die Aussichten auf ein stärkeres Zusammenwachsen grundlegend geschwächt habe. Eine mögliche Antwort darauf wäre nach Ansicht des Autors eine gestufte Integration. Schließlich müssten bestimmte Kosten der Finanzkrise in der Bilanz negativ verbucht werden. „Die Staatengemeinschaft der EU hat sich in ihrem Kampf gegen die Staatsschuldenkrise angesichts der unmittelbar bevorstehenden Zahlungsunfähigkeit einzelner Mitgliedstaaten entschlossen, die geltende Vertragsverfassung in wesentlichen Punkten zu ignorieren.“ (S. 28) Die unmittelbaren Akte der Nothilfe wurden in der Krise regelmäßig als „alternativlos“ präsentiert. Gerade diese „Relativierung des Rechts“ (S. 29) macht dem Professor Sorgen, denn die Verlässlichkeit der gemeinsamen Regeln sei die „Voraussetzung für die Bereitschaft, sich auf das europäische Projekt weiter einzulassen“ (S. 29).

Bei der Frage, ob die EU „Grenzen“ brauche, geht es nach Ansicht Kielmanseggs vor allem darum, ob diese letztlich gewünscht werden. Eben diese Frage hätte man viel früher stellen und beantworten müssen (vgl. S. 44f.). Schließlich geht es um Demokratie und Integration, zwei für die Identität Europas konstitutive Projekte (vgl. S. 10). Der Autor schätzt die Chancen für eine demokratische Verfassung skeptisch ein, vor allem, weil die gesellschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen dafür nicht vorlägen.

Den Schlusspunkt setzt ein Beitrag, der die Frage aufwirft, wie es mit dem Einigungswerk weitergehen kann? Kielmansegg meint dazu, dass letztlich ein „blindes Vorwärtsdrängen“ im Integrationsprozess dem europäischen Projekt mehr schaden kann als  Zögerlichkeit (S. 113). Erschwert würde der Einigungsprozess auch dadurch, dass sich die EU auf eine strikte Pfadbindung festgelegt habe und Kurskorrekturen nicht vorgesehen seien. Eine solche Politik müsste aber, was Etappen wie Ziele angeht, sowohl anspruchsvoller als auch bescheidener werden. „Bescheidener, indem sie die Einsicht akzeptiert, dass eine Staatswerdung Europas weder wünschenswert noch möglich ist. Anspruchsvoller, indem sie auch gegen Widerstände Ernst macht mit der Unterscheidung des Wesentlichen vom Unwesentlichen und ihre Kräfte ganz anders als bisher auf das Wesentliche konzentriert.“ (S. 32) Wesentlich wäre eine Bündelung der Kräfte auf der Weltbühne, denn bisher führe jede internationale Krise Europa seine Schwäche, ja Hilflosigkeit drastisch vor Augen. Es sei alles andere als zufällig, dass US-Präsident Obama im Zuge seines jüngsten Deutschland-Besuchs die europäischen Staaten zu mehr Einigkeit und Engagement aufgefordert habe: „Die gesamte Welt braucht ein starkes, erfolgreiches, demokratisches und vereintes Europa“, so Obama in seiner Rede am 24. April in Hannover (vgl. http: //iptv.orf.at/#/stories/2336565/). Alfred Auer

 

Bei Amazon kaufenKielmansegg, Peter Graf: Wohin des Wegs, Europa? Beiträge zu einer überfälligen Debatte.Baden-Baden: Nomos Verl.-Ges., 2015. 162 S., 29,- [D], 29,90 [A]

ISBN 978-3-8487-1966-2