Das Politische und die Politik

Ausgabe: 2010 | 3

Was Politik ist, meinen wir zu wissen, nämlich die mittels deliberativer Verfahren erzielte Übereinkunft, wie die Gesellschaft zu ordnen, welche Grenzen zu ziehen und wie Güter zu verteilen sind. Politik ist demnach fokussiert auf Prozesse wie politische Verfahren (Wahlen, Lobbyismus) und darauf, wie Interessengruppen ihre Anliegen durchzusetzen suchen. Das Politische (policies) bezeichnet die Inhalte politischer Auseinandersetzung und zielt auf Problemlösung und Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse. Es scheint durchaus logisch, dass die aktuelle Debatte um den Begriff des Politischen ihren Ursprung in der Diagnose hat, dass das, was in der gegenwärtigen institutionellen und medialen Aufführungspraxis als „Politik“ bezeichnet wird, nicht „das ganze Politische“ sein kann.

 

Die im vorliegenden Band verhandelte Unterscheidung zwischen dem Politischen und der Politik, wie sie auf einer internationalen Tagung am Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) in Nordrhein-Westfalen erörtert wurde, soll auf ihre Plausibilität und ihre Trennschärfe hin untersucht werden. Wo und wie ereignet sich das Politische? Lassen sich Typologien des Politischen aufstellen oder handelt es sich allein um eine heuristische Kategorie? Den Herausgebern geht es darum, Ereignisse zu verorten, wo sich heute das Politische zeigt und nicht zuletzt auch darum, Brücken zwischen den verschiedenen Interpretationen und zwischen den Begrifflichkeiten zu bauen.

 

Vordergründig scheint eine Unterscheidung zwischen „dem Politischen“ und „der Politik“ eine von der Politikwissenschaft vorgenommen künstliche Differenzierung zu sein. Der Staat macht Politik, das Politische ist der normative Maßstab für jeweils realisierte Formen von Politik. Ganz so einfach liegt die Sache allerdings nicht, wie die Beiträge dieses Bandes belegen. Vielleicht hilft der Verweis auf Hannah Arendts Ideen der griechischen polis: Im Gegensatz zum Reich der Notwendigkeit, der Selbsterhaltung des oikos identifiziert sie das Politische mit dem „Leben in der Polis“. „Wenn die Politik mit den historischen Formen der Bestimmung, Legitimation und Durch- setzung von Herrschaft identifiziert wird, wie Arendt es nahezulegen scheint, dann ist das Politische nicht mit Politik identisch. Das Politische wäre vielmehr die Potentialität des gemeinsamen Handelns gegenüber der Politik als Ausdruck der Steuerung der gemeinsamen Belange, wozu es der Vielen nicht bedarf, weil sie idealtypisch letztlich einem Einzelnen übertragen werden kann.“ (S. 17f.)

 

Neben Arendt wird in der Einleitung von den Herausgebern auch Carl Schmitts Interpretation des Begriffs bemüht. Bei Schmitt ist vom Politischen im Gegensatz zur demokratischen Politik nur die Rede, wenn die Funktion der Freunde und der Feinde definiert ist. „Eine Welt, die völlig befriedet wäre, die ohne die Unterscheidung von Freund und Feind auskäme, wäre demnach eine ‚Welt ohne Politik‘.“ (S. 20) Eine etwas andere Positionierung nehmen Jacques Rancière (ab S. 24) und Alain Badious vor, für die in der Politik Interessenkonflikte und Machverhältnisse konfrontiert, ausgetragen und verhandelt werden. Neben den genannten Bezügen geht es in den vorliegenden Beiträgen etwa um das Fehlen eines entwickelten Begriffs der Politik bei Adorno sowie um neuere Ansätze in den Arbeiten von Slovaj Zizek, Roberto Esposito oder Chantal Mouffe. Robin Celikates wiederum beschäftigt sich mit der These, „dass der zivile Ungehorsam als exemplarisch für die konflikthafte Struktur des Politischen und der Politik verstanden werden kann“ (S. 279). Für ihn gilt ziviler Ungehorsam (siehe den Band von Martin Balluch über „Widerstand in der Demokratie“ weiter unten) als Form der Diktatur der Minderheit und damit der politischen Erpressung.

 

„Unter demokratischen Bedingungen muss ziviler Ungehorsam – also der Versuch direkter politischer Einflussnahme unter Umgehung der institutionalisierten und von allen anderen eingehaltenen Verfahren der Willensbildung und Entscheidungsfindung – den Verdacht auf sich ziehen, unter dem Mantel moralischer Prinzipien der Durchsetzung der eigenen Präferenzen auch gegen den erklärten Willen der Mehrheit zu dienen.“ (S. 281)

 

In insgesamt 15 Beiträgen wird durchaus ambitioniert der Grundfrage nach dem Verhältnis zwischen dem Politischen und der Politik nachgegangen. Angemerkt sei aber doch, dass sich die Relevanz der akademischen und z. T. etwas sperrigen Analysen wohl nur einem kleinen Kreis von Fachleuten aus Politikwissenschaft und politischer Theorie unmittelbar erschließen wird. A. A.

 

Das Politische und die Politik. Hrsg. v. Thomas Bedorf … Berlin: Suhrkamp, 2010. 384 S., € 14,- [D], 14,40 [A], sFr 25,-

 

 ISBN 978-3-518-29557-1