Das Denken und seine Zukunft

Ausgabe: 2001 | 2

Mitten unter der Lektüre mag man sich noch einmal vergewissern, welcher Wissenschaft der Verfasser dieser pointierten Gesellschaftsanalyse angehört: Soziologe, Politologe, oder was stand da im Klappentext? Ja, die Erinnerung hat die aufmerksamen LeserInnen nicht genarrt: Hans Graßmann ist Physiker, ein poetischer, ein querdenkender und einer, der die Menschen liebt. Deshalb hat er Angst um den Einzelnen und um die Gesellschaft. Er sieht eine Bedeutung von Wissenschaft darin, Emotionen Ernst nehmen zu können. In mehreren Beispielen hat Graßmann überzeugend vorgeführt, dass Kreativität eine wichtige Grundlage der Wissenschaft darstellt, dass rationale Gedanken letztlich nichts anderes als bestätigte Emotionen sind. Seine Streitschrift richtet sich gegen dieVision sogenannter Experten, Computern das Denken zu lehren und damit den Menschen zur Maschine zu degradieren: der moderne Mensch mit schön trainiertem Körper, dieses reiche, glückliche, uneingeschränkt mobile Indiduum scheint ideal für derartige Manipulationen zu sein. Auf dem Weg zum modernen Menschen begegnet man den verrückten Maßstäben gelungenen Lebens: schöne Arbeitnehmer, schöne Konsumenten, schöne Männer und noch einmal schönere Frauen, denen weder Arbeitsdruck noch Konsumterror etwas anhaben können. Nachdenken, Muße, das würde sie gefährden, aber davor schützt die Konsummaschenerie, gründlich, wohldurchdacht und wiederum unendlich schön. Graßmann setzt nach dieser scharfen Analyse die Beachtung der Naturwissenschaft, speziell der Gebiete der Physik, in Beziehung zur Freiheit des Menschen. Sobald Menschen sich gegen Bevormundung und Vereinnahmung auflehnten, blitzte die Physik auf. Wo der menschliche Geist sich der Irrelevanz verschreibt   Fitness- und Bräunungsstudio, Wellnessideologie ...   da versinkt, stirb die Physik. So fordert der Autor seine LeserInnen heraus: sie mögen sich wieder an die größeren Entwürfe wagen, das kleine Patchwork reiche doch nicht aus, das kurzfristige Arbeitsverhältnis ebensowenig wie der temporäre Lebensabschnittspartner. Wer keine Lust mehr zum Denken hätte und es gerne der Maschine überließe, der hätte auch keine Lust mehr zum Leben. So philosophiert ein Physiker, ein echter, keiner aus Dürrenmatts Drama. Chr. G.-R.

Graßmann, Hans: Das Denken und seine Zukunft. Von der Eigenart des Menschen. Hamburg: Hoffmann u. Campe, 2001. 239 S., DM 36,- / sFr 33,- / öS 263,-