Cyberhypes

Ausgabe: 2001 | 4
Cyberhypes

Möglichkeiten und Grenzen des InternetDie anfängliche Euphorie rund um das Internet ist inzwischen von einer reflektierteren Betrachtungsweise abgelöst worden. Erfolge (z. B. der Kampf gegen das Milose-vic-Regime) stehen Zugangsbeschränkungen zu den „wild wuchernden Datenströmen“ gegenüber. Besonders in totalitären Staaten wie China, Irak oder Burma wird zwar die Vernetzung vorangetrieben, zugleich aber wird versucht, die freie Zirkulation der unerwünschten politischen Information zu blockieren oder zu zensieren bzw. zu überwachen.

Sogenannte „Cyberhypes“, um etwas Klarheit hinter das kryptische Verlagsschlagwort des Titels zu bringen, sind individuelle oder „kollektive Halluzinationen“, die sich auf den Raum der Bits und Bytes beziehen und von der Lust aufs Vernetztsein (being wired) erzählen. Dreizehn Beobachter aus fünf Länder, die diese Entwicklung mitverfolgt bzw. als distanzierte Kommentatoren begleitet haben, melden sich hier kompetent zu Wort. Die Herausgeber meinen vorweg, dass von einem Ende der Utopien, einem Ende der großen Erzählungen und Entwürfe, mitnichten die Rede sein kann, denn die Visionen und Träume vom „virtuellen Kommunismus“ leben (S. 18).

Schätzungen sprechen heute von 200 bis 250 Millionen Internet-Usern, täglich sollen weltweit etwa 170.000 neue dazukommen. 90 Prozent davon leben noch immer in den reichen Industrieländern. In Deutschland benutzten (Ende 1999) über ein Fünftel der Bundesbürger zwischen 14 und 59 Jahren das Internet – 1,6 Millionen „de-Domains“-Einträge sind verzeichnet.

Was sich an möglichen Trends und Entwicklungslinien abzeichnet, umschreiben die Herausgeber folgendermaßen: Das Web wird das erste globale Massenmedium einer Weltgesellschaft werden, die Ressourcen und Gewinn aus der Suche, Aufbereitung und Vermittlung sowie der Verschlüsselung von Wissen und Information zieht. Die Nutzung des Internet wird die Gesellschaften „durchökonomisieren“ sowie die Grenzen von Arbeitswelt und Freizeit weiter auflösen. Zugleich werden sich immer weniger Menschen den Zugang zu Wissen und Information aufteilen.

Der Philosoph Pierre Lévy beschäftigt sich mit der dese Entwicklung begleitenden Sinnkrise, denn der Mensch lebt in und durch „Symbolsysteme“, die die Produktion von Sinn ermöglichen. Gerade die gegenwärtige Phase der Globalisierung stellt seiner Ansicht nach die Symbol-systeme in Frage und schafft zugleich neue Formen der Sinnproduktion, wobei Menschen selbst an der Animati-on eines Sinnraumes mitwirken (vgl. S. 233).

Weitere Beiträge widmen sich dem Magazin „Wired“ (Stefan Krempl), der Rolle der US-Regierung bei der Entstehung des Internet (Stefan Ronda), „elektromagnetischen Illusionen“ (Rudolf Maresch) oder der „Menschwerdung im Internet“ (Otto E. Rössler).

Schließlich beschäftigt sich Florian Rötzer, Chefredak-teur des Online-Magazins „Telepolis“ mit der „Renationalisierung oder Reterritorialisierung des Internet“, die „nicht mehr nur von Staaten zum ‚Schutz’ ihrer Bürger, ihrer Wirtschaft oder ihrer Infrastruktur, sondern auch zunehmend von der Privatwirtschaft angestrebt wird“ (S. 162). Es gibt zwar im Cyberspace keine absolute Sicherheit oder Zensur, meint Rötzer, aber doch Bestrebungen, durch neue Grenzen im virtuellen Raum die alten Ordnungen und Machtverhältnisse aufrechtzuerhalten. A. A.

Bei Amazon kaufenCyberhypes. Möglichkeiten und Grenzen des Internet. Hrsg. v. Rudolf Maresch u. Florian Rötzer. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2001. 271 S. (edition suhrkamp; 2202) € 11,00 / DM / sFr 21,90