Carl Friedrich von Weizsäcker: Wohin gehen wir?

Ausgabe: 1997 | 4

Die Quintessenz eines Buches ergibt sich oft aus der Lektüre des letzten Satzes. Dies trifft auch auf die hier vorliegende Sammlung einer Vortragsreihe Carl Friedrich von Weizsäckers in München vom Jänner/Februar 1997 zu: - "Laßt uns lernen, einander wahrzunehmen, einander ernst zu nehmen. Laßt uns verantwortliche Nächstenliebe lernen!" (S. 109). Auf den davorliegenden Seiten skizziert der Autor aktuelle und wünschenswerte Strukturen in den Bereichen Politik, Religion und Wissenschaft. Kapitel 1 handelt vom Gang der Politik und wird in die vier Segmente Friedenssicherung, Soziales, Umwelt und Demokratie gegliedert. Basierend auf einem von der Bergpredigt geprägten Leben, hält Weizsäcker den Weltfrieden noch immer für das Maß aller Dinge. Die unmittelbare Vergangenheit hat für ihn durch die zunehmende Bedeutung größerer Strukturen (wie z. B. der UNO) bereits eine Hinwendung zum Positiven bewirkt. Analog zur stetig gewachsenen Friedensfähigkeit gebe es auch im ökologischen Bereich erste Anzeichen einkehrender Vernunft. Der Physiker Weizsäcker sieht vor allem in "intelligenter Technik" den Rettungsanker: "Wenn die Wissenschaft die Gefahren für das Überleben der Natur erzeugt, so wird genau die Wissenschaft erkennen können, wie die Gefahren vermieden oder überwunden werden können. Rationelles Handeln müßte ausreichend sein ..." (S.90). Soziale Probleme seien gleichfalls durch eine analytischere Betrachtungsweise in den Griff zu bekommen, und zwar dann, wenn eigene Interessen als Partikularinteressen wahrgenommen würden. Evident werde dies im Fall des Modethemas ”Globalisierung": Firmenauslagerungen könnten demnach nicht nation-intern gelöst werden, sondern ausschließlich durch ein Wohlstandswachstum der ärmeren Länder. Der zweite Vortrag (Der Weg der Religion) bringt die These, daß eine Evolution der Theologie nur via Evolution der Wissenschaft, und damit der Aufklärung, geschehen könne: "Im heutigen Bewußtseinszustand der Menschheit [seien] Religion und Aufklärung aufeinander angewiesen." (S. 50). Ohne diese Symbiose drohe das Ende der kulturtragenden Rolle der Religion. Die Kapitel ~ (Der Schritt der Wissenschaft) und 4 (Was sollen wir tun?) dienen der Vorbereitung und Vollendung der Frage, wie wir künftig besser leben könnten. Vier Vorgänge seien dafür von zentraler Bedeutung: Wahrnehmung, Affekt. Urteil und Handlung. Der Wissenschaft obliege dabei die Erleichterung der Urteilsbildung. Um letztendlich der globalen menschlichen Existenz eine positive Wendung zu geben, müßten gleichzeitig das politische Problembewußtsein, die geistige Verantwortung der Wissenschaft für die Folgen ihres Tuns sowie die Wahrnehmung des religiösen Ethos eine Renaissance erfahren. 

Der 1912 geborene Autor entstammt einer Generation des grenzenlosen Glaubens an die Segnungen der Technik. Selbst wenn man dieser Ideologie nicht anhängt, so liefert Weizsäcker mit seinem reichhaltigen Erfahrungsschatz und der seinem Lebensalter entsprechenden ganzheitlichen Sichtweise wertvolle Anregungen. B. E

 

Weizsäcker, Carl Friedrich v.: Wohin gehen wir? Der Gang der Politik - Der Weg der Religion - Der Schritt der Wissenschaft - Was sollen wir tun? München (u.a.): Hanser. 1997. 112 S.