Nicholas A. Christakis

Blueprint

Ausgabe: 2020 | 2
Blueprint

Der Mediziner und Soziologe Nicholas A. Christakis leitet das Human Nature Lab der Yale University, welches in den letzten Jahren tausende von Experimenten zum menschlichen Verhalten in Gesellschaften durchgeführt hat. Seine grundsätzlichen Erkenntnisse aus diesen Versuchen hat er in Blueprint. Wie unsere Gene das gesellschaftliche Zusammenleben prägen zusammengefasst und damit das Kunststück geschafft, Evolutionsbiologie, Genetik und Soziologie zusammenzuführen – auf eine so verständliche Weise, dass auch unbewanderte Leserinnen ein grundlegendes Verständnis über die Rolle von Evolution und Genen für den Blueprint (dt.: Bauplan) menschlicher Gesellschaften erhalten.

Das Buch vermittelt ein positives Menschenbild: Wir sind grundsätzlich kooperative Wesen bzw. Kooperation hat uns zur erfolgreichen Spezies gemacht. Trotz aller kulturellen Unterschiede eint uns mehr, als uns unterscheidet: „Die Ähnlichkeiten sind größer und bedeutsamer als die Abweichungen.“ (S. 26) Christakis verweist hier auf die „soziale Ausstattung“, die über alle Kulturen hinweg im menschlichen Verhalten gleich ist. Dazu gehören die Fähigkeit, eine persönliche Identität zu haben, die Liebe zu Partnerinnen und Kindern, Freundschaft und Kooperation, der Wunsch nach flachen Hierarchien, soziales Lernen – aber auch die Begünstigung der eigenen Gruppe (S. 35).

Um die Rolle der universellen sozialen Ausstattung für das menschliche Zusammenleben zu erfassen, untersucht der Autor verschiedene Formen des menschlichen Zusammenseins bzw. der menschlichen Interaktion. Menschen tendieren dazu, auf althergebrachte Gesellschaftsordnungen zurückzugreifen. Daher sind gesellschaftliche Experimente, die einen „neuen Menschen“ schaffen wollen (etwa der Kommunismus oder diverse Kommunen), kritisch zu sehen. Tatsächlich unterschätzen die meisten dieser „geplanten Gemeinschaften“ die Rolle der uns angeborenen „sozialen Ausstattung“ für unser gesellschaftliches Verhalten: etwa, dass wir uns als Paar binden wollen und unsere Kinder selbst großziehen möchten (Stichwort: vergesellschaftete Kindererziehung). Die Interaktion zwischen Menschen wird mittlerweile auch im Labor untersucht. Zahlreiche Experimente zeigen, dass Uneigennützigkeit oder Egozentrismus stark davon abhängen, wie eine Gesellschaft organisiert ist: „Dieselben Personen können sich also in einer sozialen Umwelt großzügig verhalten und in einer anderen geizig. Das heißt, die Neigung zur Kooperation ist nicht nur eine Eigenschaft von Personen, sondern auch von Gruppen.“ (S. 134)

Paarbindung gehört zu unseren grundlegenden sozialen Ausstattungen

Ausführlich widmet sich Christakis unseren sozialen Beziehungen: der Liebe zwischen Partnern und Partnerinnen, zwischen Eltern und Kindern, und der wichtigen Rolle von Freundschaften für das gesellschaftliche Zusammenleben. Tatsächlich gehört Paarbindung zu den grundlegenden sozialen Ausstattungen, unabhängig davon, ob wir monogam oder polygam leben: „Die Evolution liefert den Kulturen das Rohmaterial, und die Kultur formt daraus ihre Paarungssysteme.“ (S. 161) Auch wenn es eine Vielfalt von Beziehungsmodellen gibt, ist ein Gefühl der Verbundenheit zwischen Menschen in einer sexuellen Beziehung universell. Sowohl der Wunsch nach einer Vielzahl von Partnern als auch nach Exklusivität und Nähe sind grundlegende menschliche Eigenschaften. Die unterschiedlichen Kulturen haben darauf verschiedene Antworten gefunden. Ähnliches gilt für Freundschaft: Freundschaftsbeziehungen und daraus resultierende soziale Netzwerke sind ein universelles Phänomen. Aus der Perspektive der Evolution haben Freundschaften zu unserem Erfolg als Spezies wesentlich beigetragen: Gegenseitige Unterstützung in Notlagen, mitunter ohne Reziprozität einzufordern, hat sich als sehr effektiv erwiesen. Die Schattenseite ist dabei die „Begünstigung der eigenen Gruppe“, wie sie in allen Kulturen zu finden ist, die in Fremdenhass und Gewalt gipfeln kann. Dabei reichen schon minimale Unterscheidungsmerkmale – ein Überbleibsel aus einer Zeit, wo die Zuge­hörigkeit zu einer Gruppe das eigene Überleben sicherte. Dennoch: „Es ist […] möglich, die eigene Gruppe zu mögen, ohne andere zu hassen. […] Meinungsumfragen und Experimente zeigen, dass Eigenliebe nicht notwendigerweise mit Fremdenhass einhergeht, auch wenn die Evolution dies so vorzugeben scheint.“ (S. 312)

Wie Kultur und Gene interagieren

Gegen Ende des Buches greift der Autor die schwierige Frage auf, wie Kultur und Gene inter­agieren bzw. wie Gene unsere Welt formen. Christakis zeigt, dass unsere Gene zwar viel von unserem gesellschaftlichen Verhalten vordefinieren – aber dass umgekehrt auch Kultur auf unsere genetische Ausstattung wirkt. Dazu kommt soziales Lernen, dessen Grundlage Kooperation ist und welches uns Menschen einen großen Vorteil in der Evolution verschafft hat. Gleichzeitig zeigt Christakis, dass auch Tiere zu sozialem Lernen und sogar zu Freundschaften fähig sind. Elefanten, Delfine, Wale und Menschenaffen demonstrieren Verhaltensweisen, die zumindest auf ein rudimentäres Bewusstsein schließen lassen. Unser Verhältnis zu Tieren muss daher grundlegend neu gedacht werden.

Christakis lehnt eine strikt kulturelle Interpretation von Handlungen, die sich in den letzten Jahrzehnten vor allem in den Sozial­- wissenschaften etabliert hat, entschieden ab, ohne in plumpe Biologismen zu verfallen. Doch eine Frage umschifft der Autor in seinen umfassenden Ausführungen – nämlich jene nach der individuellen Entscheidungsfreiheit. Zwar verweist er auf die Flexibilität des Individuums

innerhalb genetischer und kultureller Rahmenbedingungen, doch wird im Laufe der Lektüre klar, dass zwar Rahmenbedingungen (genetische wie kulturelle) veränderbar sind, aber nur über lange Zeiträume als Form evolutionärer Prozesse. Hier werden noch spannende Debatten auf uns zukommen.