Blick zurück auf das utopische Zeitalter Europas

Ausgabe: 1993 | 3

Der Traum vom glücklichen und gerechten Leben aller Menschen findet im utopischen Denken seit der Renaissance - als wesentliche Grundlage der europäischen Zivilisationsgeschichte - seinen Ausdruck. Der Journalist Michael Winter beschäftigt sich mit den literarischen Utopien als alternative Gesellschaftsmodelle, die ein Reservoir an gedanklichen Möglichkeiten, wie der Mensch leben könnte, geschaffen haben. Seine Analyse reicht von Thomas Münzer über Robespierre bis zur Dialektik der utopischen Vernunft bei La Mettrie und de Sade. Charles Fourier gilt ihm als Repräsentant einer anderen Utopie, in der nicht mehr der Staat, sondern der Mensch Gegenstand utopischer Spekulation ist. Mit der Aufklärung avancierte im Zuge eines einzigartigen Säkularisierungsprozesses die Idee vom gesellschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Fortschritt zur Ersatzreligion Europas. Nach dem Scheitern des realen Sozialismus als Versuch der Umsetzung utopischer Ziele zeigen sich für Winter auch im kapitalistischen Glauben an den Fortschritt zunehmend Zweifel. Er kommt zum Schluß, daß utopische Gesellschaftskonzepte einer idealen Gesellschaft letztlich ihr Ziel notwendig verfehlen müssen, wenn sie als konkrete Handlungsanweisungen verstanden werden. Insofern hat sich das utopische Projekt der Moderne zwar als Irrtum erwiesen, auf dem Gebiet der Technologien und Döblins Alpträumen (beschrieben in seinem Roman "Berge, Meere und Giganten") ist ein Ende des utopischen Zeitalters nicht abzusehen. Winter sieht aber erst am Ende der realen Utopie eine Chance, die Auseinandersetzung mit den drängenden Problemen der Zeit zu beginnen. Als die Mauern gefallen waren und die Utopie vom schönen Leben greifbar wurde, zerbrach sie für die Menschen im Osten. Ähnlich geht es uns im Westen mit dem Versprechen vom ökologisch sinnvollen Leben und dem Wohlstand für alle. "Wir müssen erkennen, daß die Idee des Wohlstands für alle eine Utopie ist ebenso die Idee des Wohlstands für alle Zeit. Wir müssen erkennen, daß es nur Wohlstand auf Kosten anderer gibt, und nur Wohlstand in einer Zeit, auf Kosten der Vergangenheit und der Zukunft." AA

Winter, Michael: Ende eines Traums. Blick zurück auf das utopische Zeitalter Europas. Stuttgart (u.a.): Metzler (u.a.), 1993. 352S., DM 48,- / sFr. 40,70 / öS 374,40