Arabisches Beben

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Arabisches Beben
Die wahren Gründe der Krise im Nahen Osten

Hermann-Arabisches-BebenDer Nahe Osten ist einer der größten Konfliktherde im gegenwärtigen Weltgeschehen. Die Prognose des Journalisten und Auslandskorrespondenten der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, Rainer Hermann, ist düster. Der arabischen Welt stehen – so Hermann – „noch jahrzehntelange Konflikte bevor“ (S. 19), die auch Europa weiterhin in Mitleidenschaft ziehen werden. Das dort herrschende Chaos lässt die Hoffnung auf eine neue und stabile Ordnung immer weiter in die Ferne rücken. Laut Hermann waren es vor allem drei „äußere“ und drei „innere“ Faktoren („Leitplanken“), die zur heutigen Situation im Nahen Osten geführt haben:

(a) Bereits im Osmanischen Reich bildete sich in vielen Provinzen eine Herrschaftsform heraus, in der sunnitische Minderheiten über die in Teilen schiitische Bevölkerung sowie die ländliche Stammesbevölkerung herrschten. Konflikte konnten damals aber noch häufig durch die Politik des osmanischen Reiches vermieden werden. (b) Nach dem Untergang des Osmanischen Reiches wurden von den europäischen Kolonialherren „künstliche“ Nationalstaaten geschaffen, deren Grenzen verschiedene Ethnien und religiöse Gruppen voneinander trennten. Gleichzeitig blieb – nach Abzug der Mandatsmächte –  in vielen Teilen des arabischen Raumes die Herrschaft einzelner homogener Eliten bestehen; abermals fühlten sich z. B. in Syrien, Irak und Jordanien weite Teile der Bevölkerung ausgeschlossen. So entstanden Staaten, die lediglich „leere Hülsen“, ohne inneren Zusammenhalt, waren. (c) Später waren es laut Hermann unter anderen die USA, die fundamentale Fehler begingen, und die Entwicklung weiter Teile des Nahen Ostens zum Negativen beeinflussten. So unterbrach der Sturz Mossadeghs 1953 im Iran das Aufkommen demokratischer Strukturen und beförderte die Entstehung des noch heute dort herrschenden islamischen Regimes. 1979 war es der Einmarsch der roten Armee in Afghanistan, der als Reaktion islamistische Extremisten aus aller Welt anzog. Nach Abzug der sowjetischen Streitkräfte konnten die Taliban an politischer Macht gewinnen. (d) Viele arabische Machthaber der heutigen Zeit führen die Staatsgebilde autoritär, in Form eines „Sicherheitsstaates“, der häufig auch vor Folter nicht zurückschreckt; des Weiteren verteilten die Eliten Pfründe, um Personen an sich zu binden, ohne jedoch die Allgemeinheit zu unterstützen. (e) Legitimiert wurden diese Regime durch totalitäre nationalistische und sozialistische Ideologien. Da die Staaten bzw. Eliten die Bevölkerung im Stich ließen, wandten sich diese vor allem den Religionen und ethnisch orientierten Zusammenschlüssen zu. (f) Dadurch konnte der Islam zum „wichtigsten Gegenentwurf zur totalitären Staatsideologie“ (S. 41) werden, durch den unter anderem Feindschaft und Gewalt legitimiert werden.

Es waren diese Bedingungen und Entwicklungen, die dem sogenannten „Islamischen Staat“ (IS) den Nährboden bereiteten. Diese terroristische Gruppierung entstand zunächst im von Saddam Hussein autoritär geführten Irak. Husseins Expansionsstreben sowie die Machtkämpfe zwischen Schiiten und Sunniten ließen den Irak jedoch erodieren. Die Folge waren Verarmung, das Zerfallen der Mittelschicht sowie der Kollaps staatlicher Institutionen. Die Bevölkerung ließ ihre nationale Identität hinter sich und wandte sich vermehrt ethnischen sowie religiös inspirierten Ideologien zu. Der IS konnte somit in ein immer größer werdendes Vakuum vorstoßen. In Syrien tobt ein „Stellvertreterkrieg konkurrierender Mächte“ (S. 80), vor allem zwischen Saudi-Arabien und dem Iran, der sich zusätzlich Großmächte wie die USA und Russland auf den Plan rief. Die Ableger des IS profitierten vom Zerfall des syrischen Staates und konnten zeitweise weite Teile des Landes besetzen. Von den 2011 durch den „Arabischen Frühling“ in vielen arabischen Staaten initiierten Versuchen demokratische Strukturen aufzubauen, ist heute nichts mehr übrig.

Heute ist der „Grundkonflikt“ (S. 102) vor allem jener zwischen Sunniten und Schiiten bzw. zwischen Saudi-Arabien und dem Iran – beides Länder, die im Vergleich zu den anderen Staaten der Region als stabil gelten. Beide Seiten ringen um Macht und Vorherrschaft im Nahen Osten. Dies geschieht durch das Schüren von Konflikten bzw. durch die Unterstützung jeweils wohlgesinnter Konfliktpartner in anderen Regionen. Das schiitische Regime des Iran unterstützt etwa die Hizbullah im Libanon, ruft öffentlich zur Vernichtung Israels auf und probt seit einiger Zeit den Aufstieg zur Atommacht. Die Religion des Islam wird als Instrument der Mobilisierung verwendet; der Konflikt wird als Glaubenskrieg inszeniert, in dem – unter bestehenden Rahmenbedingungen – immer extremere Strömungen Aufwind bekommen. Bürgerliche Formen des Islam haben aufgrund der politischen Missstände zunehmend an Substanz und „moralischer Autorität verloren“ (S. 129).

Um die Region zu befrieden, schlägt Hermann einen Prozess ähnlich dem „Westfälischen Frieden“ vor. Dieser setzte dem Dreißigjährigen Krieg ein Ende, indem die Konflikte durch Verhandlungen und diplomatisches Geschick beigelegt werden konnten. Hermann ist sich jedoch im Klaren, dass ein solcher Prozess im Nahen Osten immer weiter in die Ferne rückt. Der Konflikt stellt sich als zu verworren und die Fronten als zu verhärtet dar. Auch wenn die Konflikte im Nahen Osten noch andauern werden, hegt der Autor die Hoffnung, dass sich der Pendelschlag vom Islamismus hin zu einem national inspirierten Arabismus bewegt. In diesem Falle wäre die Entwicklung hin zu einer arabischen Identität, die verschiedene Religionen und Ethnien zu integrieren vermag und somit  zu stabileren politischen Verhältnissen beiträgt, zumindest möglich. Um Stabilität in der Region zu erhöhen, sollten zudem ein „innerweltlicher“ Islam gefördert, die Korruption bekämpft sowie die wirtschaftliche Entwicklung begünstigt werden. Letzteres würde die Etablierung der Mittelschicht unterstützen, der für die Ausbildung eines demokratischen Systems unerlässlich ist. Die wohl strittigen Punkte dieser Strategie liegen jedoch im Detail. So sieht Hermann etwa im „gemäßigten Islamismus“, zu dem der Autor die sogenannten Muslimbrüder zählt, eine „Brandmauer gegen den Extremismus und den Dschihad“ (S. 295). Dies stellt eine Position dar, die wohl nicht von allen geteilt werden dürfte.

Von Dominik Gruber

 

Hermann, Rainer: Arabisches Beben. Die wahren Gründe der Krise im Nahen Osten, 2018. 378 S., € 16,95 [D], € 17,50 [A]