Antje Vollmer über Gewalt, Macht und Zivilisation

Ausgabe: 1995 | 2

Kündet der Krieg auf dem Balkan von der Rückkehr finsterster Gewalt in den Alltag sich auflösender Bürgergesellschaften des alten Kontinentes? Die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages will diese Gefahr mit Aufklärung, Vernunft und Zivilcourage bannen. Im Mittelpunkt ihrer Analyse steht die Erkenntnis, daß die Bändigung der Gewalt der Kern der menschlichen Zivilisation darstellt und als herausragende Kulturleistung anzusehen ist.

Nachdem die Gewalt in früheren Kulturen durch religiöse Kulte, in späteren Zeiten durch das Gewaltmonopol des Staates in Verbindung mit demokratischen Verfassungen, Bürgerrechten, Gewaltenteilung und Menschenrechtsgarantien, jedenfalls nach innen und weitestgehend, gebunden worden war, fehlt der Moderne aus Sicht der Autorin eine neue, kulturprägende Schicht, eine zivilisatorische Leitidee, die in der Lage wäre, neue Formen der Gewalteindämmung zu finden. Diese Akteure einer dritten Phase der Zivilisierung als neue "Elite" sollten überlebensklug, verzichtserfahren, zukunftskreativ und umfassend verantwortlich sein. Sie müßten sich auf die Fähigkeit verstehen, die unendlich mimetischen Konflikte einer Gesellschaft der Überbevölkerung, der ökologischen Risiken und des Ressourcenmangels zu zähmen und gleichzeitig den Menschen zu einer Neuankunft in einer sie freundlich umgebenden Welt zu verhelfen.

Eine wahrhaft titanische Aufgabe, die, so die ehemalige Frakttonssprecherin der Grünen, der Kunst der Bombenentschärfer wie der der Hebammen gleichkomme. Am ehesten sieht die Politikerin, Publizistin und Theologin die Medienschaffenden und die Ikonen der Neuzeit, die Pop- und Sportstars, dazu in der Lage. Diese könnten zu den neuen Citoyen des neuen Europa reifen. König Fußball als Meister an zivilen Qualitäten. Und der Krieg besiegt auf den Feldern der Open-Air-Spektakel. "Blind ist. wer ohne die Musen, mit Verstandeskräften allein den Weg sucht", zitiert Antje Vollmer den griechischen Dichter Pindar, und meint schließlich: "Es wäre doch merkwürdig, wenn diesen erprobten Deserteuren, den Künstlern, Musikern, Dichtern, die mit keiner Feinderklärung mehr zu dämonisieren waren, nicht auch ein wirklicher Gesang einfallen würde, der den Heißen Frieden abzukühlen imstande wäre.

E. H. 

Vollmer, Antje: Heißer Frieden. Über Gewalt, Macht und das Geheimnis der Zivilisation, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1995, 206 S, DM 34,- / sFr 28,80 / öS 265