Amerika verstehen

Ausgabe: 2017 | 3
Amerika verstehen

Geschichte Politik und Kultur der USADas im Titel dieses Buches formulierte Ansinnen ist in Zeiten wie diesen ein ambitioniertes Unterfangen. Selbst wenn man die USA „nicht nach der gerade amtierenden Regierung“ beurteilt (S. 187): ein Klima, das Donald Trump zur Präsidentschaft verholfen hat, verschreckt selbst langjährige Fans seines Landes. Ronald D. Gerste versucht in dem aktuellen Taschenbuch den Wahlerfolg Trumps in einen weiteren Kontext zu platzieren: Um das Fazit des seit Jahren in den USA als Korrespondent tätigen Arztes und Historikers vorwegzunehmen: Europa sollte den USA „ein Partner und, wenn nötig, mahnender Freund sein“, damit Lincolns Vision und Mahnung nie Realität werde: „Amerika wird niemals von außen zerstört werden. Wenn wir versagen und unsere Freiheiten verlieren, dann nur [..], weil wir uns selbst zerstört haben“ (S. 188).

Mosaiksteine zum Wahlergebnis sind für Gerste unter anderem die Desillusionierung bei der Beurteilung des Privatlebens von Politikern in einem zutiefst prüden Land, für die sich der 45. Präsident beim 42. – Bill Clinton – bedanken könne. Oder die Tatsache, dass 2016 die erste Wahl der US-Geschichte stattfand, „in der zwei mehrheitlich als unsympathisch oder wenig vertrauenswürdig eingestufte Persönlichkeiten um den Einzug ins Weiße Haus rangen“ (S. 10).  Trumps schillernde Biographie als Selbstdarsteller im TV und der Mangel an Sachkompetenz und politischer Erfahrung dürfte ihm eher genützt als geschadet haben angesichts von „Frustration und Wut gegen die etablierte Politikerkaste, die kaum jemand so überzeugend verkörperte wie die demokratische Kandidatin Hillary Clinton“ (S. 17).

Der Autor stellt klar, „es gibt nicht ein Amerika, glanzvoll und stark und voller Helden. Es gibt viele Amerikas, die sich in dem denkbar größten Kontrast gegenüberstehen“ (S. 24). Der Autor beleuchtet den American Way als Weg eklatanter Widersprüche: „Ein hohes Freiheitsideal auf der einen Seite, auf der anderen Seite Einengungen durch Konventionen, die Allgegenwart von Vorurteilen und schließlich Gewaltbereitschaft und enthemmte Aggression“ (S. 171). Diese Widersprüche blieben lange zugedeckt, der Protest dagegen macht sich unter Trump-Wählern selbst nach der Wahl noch explosiv Luft.

Richard Rorty hatte in seinem Buch „Achieving Our Country” bereits 1997 prophezeit, dass die von den Eliten Vernachlässigten ihre eigene Marginalisierung irgendwann nicht mehr hinnähmen. Und daher „nach einem starken Mann Ausschau halten –, jemand der bereit ist, ihnen zu versprechen, dass nach seiner Wahl die selbstgefälligen Bürokraten, die verschlagenen Anwälte, die überbezahlten Investmentberater und die postmodernistischen Professoren nicht länger den Ton angeben“ (S. 87). Auch was von einer Trump-Regierung erwartet werden darf, hat der 2007 verstorbene linke Philosoph vorhergesehen: „dass die Fortschritte, die in den letzten vierzig Jahren von schwarzen und braunen Amerikanern und von Homosexuellen gemacht wurden, ausradiert werden. In zotige Witze verkleidete Verachtung von Frauen wird wieder in Mode kommen. Die ganze Wut, welche sich bei schlecht gebildeten Amerikanern darüber angesammelt hat, dass Universitätsabsolventen ihnen Manieren beizubringen versuchen, wird ein Ventil finden“ (S. 87).

Die kulturelle Dominanz der USA führte seit Mitte des vorigen Jahrhunderts weltweit zu einer Amerikanisierung der Alltagskultur. Für wesentlich bedenklicher hält der Autor allerdings die Übernahme von hire-and-fire-Methoden in der Arbeitswelt Europas und die Kommerzialisierung von Bereichen, in denen der Staat (zumindest nach europäischem Verständnis) eine Fürsorgepflicht besitzt: im Gesundheitswesen und bei der Bildung. Was „in weiten Teilen der Welt als ein Grundbedürfnis der Menschen, wenn nicht gar als Grundrecht betrachtet“ wird, ist in den USA „ein Geschäft, in dem das Prinzip der Profitmaximierung gilt“ (S. 161). Das betrifft die exorbitaten Medikamentenpreise, deren staatliche Regulierung in den USA als Eingriff in die uramerikanische Freiheit des Marktes ebenso undurchsetzbar erscheint wie eine allgemeine Krankenversicherungspflicht oder kostenloser Universitätsbesuch. Selbst unter „Obamacare“ sind die Versicherungsprämien 2016 um durchschnittliche 22 Prozent gestiegen, Studiengebühren bewegen sich inzwischen bei 10.000 bis über 50.000 $ im Jahr. Diese Kosten explodieren seit Jahren, gegensteuernde Wahlkampfversprechen scheiterten immer wieder „an den existierenden Machtstrukturen und dem effektiven Lobbyismus aller, von hohen Beiträgen oder Gebühren Profitierenden in den Wandelhallen des Kapitols“ (S. 162).

Dabei entscheidet sich laut Harry S. Truman jede Politik letztlich auf lokaler Ebene – „der Kongressabgeordnete und in geringerem Maße der Senator [wird] von den Gegebenheiten seines Heimatstaates und Anliegen seiner Wähler getrieben, die nicht auf einer Linie mit den Vorstellungen des Präsidenten liegen müssen“ (S. 90). Mangels Listenwahlrecht und mächtiger Parteien sind die Mandatare vielmehr ihren Sponsoren und potenten Lobbies verpflichtet. Den 435 Mitgliedern des Repräsentantenhauses bleibt wegen einer nur zweijährigen Legislaturperiode kaum eine Verschnaufpause zwischen ihren teuren Wahlkämpfen. L. B. Johnson hatte 1964 eine (theoretisch) komfortable Zwei-Drittel-Mehrheit seiner Demokraten in beiden Häusern des Parlaments. Sein liberales Bürgerrechtsprogramm und den Kampf gegen Armut konnte er dennoch nur gegen den erbitterten Widerstand zahlreicher konservativer Parteifreunde durchbringen (S. 91).

Politiker mit Verbindungen zur Ölindustrie verhindern beispielsweise den Bau von Trassen für Hochgeschwindigkeitszüge und Straßenbahnen. „Oft ist [..] die Lobby der Ölindustrie nur zu deutlich spürbar. So haben etwa zahlreiche Gouverneure die von der Regierung Obama bereitgestellten Bundesmittel für den Eisenbahnbau einfach zurückgewiesen“ (S. 152). Selbst die „wahrhaft amerikanische Art der Fortbewegung“ im Auto leidet – trotz eines von Obama angeleierten Sanierungsprogramms – unter jahrzehntelanger Vernachlässigung der Infrastruktur: 7.700 Highway-Brücken gelten als akut einsturzgefährdet, fast 59.000 als strukturell gefährdet. Eisenbahntunnel stammen teilweise noch aus der Zeit des Bürgerkriegs, die Stromleitungen sind alt und schlecht isoliert, (über)regionale Stromausfälle sind an der Tagesordnung.

Trump hat sich als der richtige Mann zur Sanierung einer verrotteten Infrastruktur dargestellt. Auf ihn wartet eine „gigantische Herausforderung.“ Hier könnte der 45. Präsident in der Tat seinem Wahlkampfslogan entsprechend ,Amerika wieder groß machen´“ (S. 159). Reinhard Geiger

 

Bei Amazon kaufenGerste, Roland D.: Amerika verstehen. Geschichte, Politik und Kultur der USA. Stuttgart: Klett-Cotta, 2017. 208 S., € 9,95 [D], 10,30 [A] ISBN 978-3-608-96167-6