Alle Menschen bleiben Kinder

Ausgabe: 1996 | 3

In Familie, Schule und Kirche wurden dem Heranwachsenden die adäquaten gesellschaftlichen und praktischen Fähigkeiten und die Moral vermittelt, die ein funktionierendes und befriedigendes Leben in der Kommunität gewährleisteten. Diese Institutionen verloren in den letzten Jahr(zehnt)en vieles an ihrer Verbindlichkeit, und die arbeitsmarkttechnischen Notwendigkeiten/Gegebenheiten entwickelten sich in Richtungen, die andere Sozialisationsstrukturen erfordern bzw. alte unbrauchbar erscheinen lassen. Normgebende Kraft findet sich nicht mehr in Familie, Schule, Kirche und Lehrbetrieb, sondern ist vielfach in Gegenständen in die Produkte des Marktes verlegt. So zeigt uns das Auto, wann der Fahrstil umweltfreundlich ist oder nicht; der Fernsehapparat "entscheidet", was gewalttätige Sendungen sind oder was Kinder aufgrund des TV-Sperrchips sehen dürfen; die Münzbedienung der Einkaufswagen bestimmt Start und Ziel im Supermarkt und hat darüber hinaus Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Dieser wird sich in Zukunft auf vier etwa gleich große Sektoren aufteilen: die überdurchschnittlich verdienenden High-Tech-Topmanager, die Teilzeitarbeiter, die Gelegenheitsjobber und die Dauerarbeitslosen. Andererseits sind Biographien weniger vorgeprägt, sondern müssen ständig neu geplant und gestaltet werden. Dies führt zu Verunsicherung, Orientierungslosigkeit. Die Folgen: Infantilisierung der Gesellschaft, d. h. trotz geänderter Familiensituation werden Jugendliche immer mehr zu "Nesthockern"; Topmanager lechzen nach Kursen, Seminaren, nach "Entwicklungshilfe"; trotz höherer Lebenserwartung möchten mehr und mehr Senioren ewig jung bleiben. Die Konsequenz, die Suche nach neuen Normen, kann in verschiedene Richtungen gehen: Flucht in religiöse, nationale, konservative Extremismen oder in eine rein pragmatische Technikgläubigkeit, die jede Gesellschaft und ihre Moral für eine quantitative Frage hält. Für erwachsen hält Gronemeyer nur jene, die er dem "Ethos-Typ" zurechnet. Dieser wagt, moralisches Neuland zu betreten. Dies impliziert humane Innovation unter der Prämisse: "Dir alle Rechte, mir alle Pflichten" oder zumindest die Erkenntnis: "Der egomane Selbstverwirklicher verspielt gerade das Selbst, weil er den anderen aus dem Auge verliert" (Paul Ricoeur). S. Sch.

Gronemeyer, Reimer: Alle Menschen bleiben Kinder. 1996, München (u.a.): Metropolitan 192S.