Felwine Sarr

Afrotopia

Ausgabe: 2019 | 3
Afrotopia

Felwine Sarr, Wirtschaftswissenschaftler und Coautor des Restitutionsberichts von Bénédicte Savoy, hat vor zwei Jahren das Buch Afrotopia vorgelegt. Afrikas Zukunft, über die so viel diskutiert wird, begreift Sarr als einen Atopos, einen Nicht-Ort, den es erst zu definierten gelte. Zügig, aber umfassend, wird umrissen, worum es in diesem notwendigen Projekt gehen muss: Den Afrotopos mit Vorstellungen anreichern, sich dabei vom westlichen Vorbild lösen und eine eigene Vision formulieren, um einen anderen und vielleicht besseren Weg zu beschreiten, was nicht zuletzt der ganzen Welt zugutekäme.

Ausgehend von der Diagnose, dass das Denken über Afrika auch seit der Unabhängigkeit 1960 überwiegend negativ ist, stellt der Autor die Frage nach der Tauglichkeit westlicher Wirtschaftsmodelle. Zunächst wird Afrika stets als Projektionsfläche missbraucht, wenn Medien und Literatur den Fokus immer wieder auf wirtschaftliches Scheitern, auf einen Mangel und auf Elend legen. Aber auch das neuere Nachdenken über einen Aufschwung des Kontinents sieht Sarr als eine Projektion, die den Wunsch anderer ausdrückt, Afrika mit seinen Ressourcen zu einem Wirtschaftswachstum zu verhelfen. Es liegt hinter all dem also ein grundlegenderes Problem: Natürlich wollen auch die Menschen in Afrika Wohlstand, doch das heißt nicht, dass sie „jene mechanistische und rationalistische Herangehensweise an Wirtschaftsfragen teilen, die die Welt und ihre Ressourcen zugunsten einer Minderheit einer außer Rand und Band geratenen Ausbeutung unterwirft und dabei die Grundlagen menschlichen Lebens aus dem Gleichgewicht bringt“ (S. 11). Wo immer westliche Wirtschaftssysteme aufoktroyiert wurden, stellte sich der erwartete Erfolg vielfach nicht ein, weil das kapitalistische Modell mit traditionellen afrikanischen Kulturen im Konflikt steht, argumentiert Sarr.

Voraussetzungen für eine tatsächliche Entkolonialisierung

Mit der Rhetorik, Afrika werde in Zukunft enorm aufholen, ist wiederum ein Mangel in der Gegenwart angesprochen. Sarr erinnert an Qualitäten, die abseits von Quantität, Bruttosozialprodukt und der Stellung am Weltmarkt liegen. Im Versuch, aufzuholen und nachzuahmen, kommt Afrika seiner eigenen Zukunft nicht näher, sondern verfestigt Abhängigkeit und Unterwürfigkeit. Daher ist das Vorantreiben eines eigenen Zukunftsprojekts, mit eigenem Denken, Darstellen und Projizieren, so wichtig. Das Projekt Afrotopia brauche „neues Denken über Wirtschaft“(S. 28), das der Menschenwürde gerecht werde, ein Lösen vom westlichen Fortschrittsmythos und von der Herrschaft der mechanistischen Vernunft, so Sarr. Für eine tatsächliche Entkolonialisierung müsse der Kontinent seine eigene Soziokultur zum Ausgangspunkt nehmen, den momentanen Status anerkennen, wie er ist, nicht wie er sein sollte, um eine eigene „Ent-wicklung“ beginnen zu können.

Das ist der Wunsch nach Singularität – doch es gibt auch den, am globalen Geschehen teilzuhaben. Dazu sollten aber nicht etablierte Formen übernommen werden, sondern etwas Eigenes zum Weltgeschehen beigetragen werden. Das Rad muss nicht neu erfunden werden, doch die stets unfertige Welt braucht immer wieder kreatives Gestalten. Um sich am Dialog zu beteiligen, bedarf es einer starken Stimme, keinem schwachen Echo.

Eine solche Stimme macht Sarr besonders in der Jugend aus, die bereits freier ist von Minderwertigkeitsgefühlen und die gegen Respektlosigkeit aufbegehrt. Über soziale Netzwerke und Musik nimmt sie Einfluss auf die Sprache und damit auf die Erzählung der Geschichte ihres Kontinents. Auch andere Künste seien wichtig: so werden einige AutorInnen vorgestellt, darunter Boubacar Boris Diop, Ken Bugul oder Chimamanda Ngozi Adichie, welche mit ihren Texten über Erfahrungen und Träume die Zukunft Afrikas entscheidend mitgestalten.

Die Notwendigkeit eine Kulturrevolution

Mit Bezugnahme auf Werke wichtiger Theoretiker des Postkolonialismus wie Aimé Césaire, Nelson Mandela und Achille Mbembe spricht Felwine Sarr von der Notwendigkeit einer tiefgreifenden Kulturrevolution, nicht zuletzt, weil Afrika in 35 Jahren ein Viertel der Weltbevölkerung stellen wird. So gesehen ist diese Revolution für die gemeinsame Zukunft der Menschen nicht unerheblich. Den Humanismus der afrikanischen Kulturen – der Werte wie Würde, Gemeinschaftlichkeit, Bescheidenheit, Gründlichkeit und Ehrgefühl beinhaltet –, wiederzuentdecken und zu befördern, wäre ein wertvoller Beitrag. Die Vision des Autors ist nicht die eines identitären Rückzugs, sondern die Besinnung auf die eigenen Stärken und Wünsche, um befähigt zu sein, sich „an der Entwicklung der Menschheit [zu] beteiligen, durch den Aufbau einer verantwortungsvolleren Zivilisation, die besser für die Umwelt sorgt, das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Ordnungen wahrt, sich der kommenden Generationen, des Gemeinwohls und der Menschenwürde annimmt: eine poetische Zivilisation“ (S. 153).

Felwine Sarr hat mit Afrotopia ein wichtiges Buch für die Postkolonialismusdebatte geschrieben, aber besonders auch für die BewohnerInnen des afrikanischen Kontinents, die abseits der Debatte als AkteurInnen ihrer Zukunftsgestaltung angesprochen sind – und auch für die BewohnerInnen des Westens, die ebenso vor der Herausforderung stehen, bekannte Pfade zu verlassen und neue, lebenserhaltende Zukünfte zu realisieren.