Ethik, Richtlinien und die Grenzen der Philosophie

Ausgabe: 1998 | 4

Allerorts erschallt der Ruf nach mehr Moral, Ethikkommissionen werden gegründet, Ethikexperten werden konsultiert. Diese hektische Betriebsamkeit kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die moderne Ethik von einem schleichenden Siechtum befallen ist. Wie soll sie Richtlinien für das Handeln liefern, wenn doch kein Konsens über ihre philosophischen Grundlagen herrscht? Weder das Christentum noch die Aufklärung können ihr ein allgemein anerkanntes Fundament bieten.

Vor diesem Horizont ist es wohltuend, einem Autor zu begegnen, der ankündigt, in seinem Buch keine Antworten zu geben, sondern Fragen zu stellen und zum Mitdenken einzuladen. Bernard Williams kommt von der Analytischen Philosophie her und fühlt sich deshalb zur Klarheit in der Darstellung verpflichtet. Das macht sein Buch einfach zu lesen. Die Gedankengänge, auf die er seine Leser mitnimmt, sind jedoch durchaus anspruchsvoll. Ausgangspunkte sind Fragen wie diese: Darf man Menschen zur Verfolgung ihrer wahren Interessen zwingen? Wer bestimmt, was diese wahren Interessen sind? Was kann die Ethik von der Psychologie lernen? Verlangt die Moral von uns, Handlungen losgelöst vom Charakter des Handelnden zu beurteilen? Ist der Objektivitätsbegriff der Naturwissenschaften für die Ethik relevant? Gibt es einen archimedischen Punkt, von dem aus die Moral zu begründen wäre? Die zentrale und tatsächlich die Grenzen der Philosophie überschreitende Frage aber lautet: Wozu soll sich die Philosophie überhaupt um eine philosophische Begründung von Moral bemühen, wenn sie dadurch doch keinen einzigen amoralischen Menschen dazu bringen kann, sein Verhalten zu ändern?

Auf seinen Streifzügen durch zweieinhalb Jahrtausende Philosophiegeschichte unterzieht Williams die Antworten, die die Meisterdenker seit Sokrates auf solche Fragen gegeben haben, einer kritischen Prüfung. Er diskutiert die Schwachstellen in der Argumentation, aber auch die oft unausgesprochenen Konsequenzen, zu denen ein radikales Weiterdenken bestimmter Positionen führen würde. Letztlich freilich appelliert er an die Mündigkeit des Lesers, der über die Plausibilität und Stichhaltigkeit der Überlegungen zu entscheiden hat und sich aussuchen darf, was er für seine persönliche Moral gebrauchen kann.

Damit erweist sich Williams als ein Aufklärer im besten Sinn: Er fördert die Autonomie, läßt uns aber mit unseren Zweifeln nicht allein. Ohne übertriebene Ehrfurcht gegenüber hochgestochenen und komplizierten Ideengebäuden zeigt er, daß selbst die größten Philosophen mit ihrem Denken an Grenzen gestoßen sind. Für viele Fragen der Moderne hielten in seinen Augen die alten Griechen überzeugendere Antworten bereit als die Denker der Neuzeit. Mit diesem Rückgriff auf die Antike reiht sich Williams in eine Strömung ein, die derzeit insbesondere in der Philosophie der angelsächsischen Länder weitverbreitet ist.


R. L.

Williams, Bernard: Ethik und die Grenzen der Philosophie. Hamburg: Rotbuch, 1999