Zukunftserwartungen, Zeithorizonte und Wertewandel

Ausgabe: 1994 | 4

Ob es sich um die Rollenverteilung von Mann und Frau, die Institution Familie, das Normalarbeitszeitverhältnis oder um das Verhältnis von Mensch und Natur handelt, überall zeichnet sich in modernen Gesellschaften ein grundlegender Wandel ab, dessen Ergebnisse nur bedingt abgeschätzt werden können. Die individuellen Zukünfte werden vielfältiger und verlieren damit an Planbarkeit, sie bieten mehr Gestaltungsräume und erfordern so auch erhöhte Gestaltungskompetenz. Der Band erhellt die Bedeutung individueller Zukunftserwartungen und ihrer Wechselwirkungen mit gesellschaftlichen Entwicklungen aus unterschiedlicher Sicht.

Zeitorientierungen und Lebensperspektiven von Jugendlichen werden ebenso thematisiert wie die Wahrnehmung ökologischer Gefahren aus der Perspektive von Industriearbeitern oder die Rolle von Zukunftserwartungen in der ökonomischen Theorie. Besonders hingewiesen sei auf zwei Beiträge, die Zukunft als Kategorie der Soziologie in einen umfassenderen gesellschaftlichen Kontext stellen. Zukunft als "offener Gestaltungsraum " sei, so Jürgen P. Rinderspacher, ein Produkt der Moderne und eng verknüpft mit der „Fortschritts-Utopie". Offenheit wird der modernen Gesellschaft zum Kapital, ein neues, "nach vorn gewandtes Sicherheitskonzept" wandelt unkalkulierbare Unsicherheit in kalkulierbares Risiko. Doch stehen wir, so der Soziologe, nun erneut an einer Wende. Seit der Industrialisierung war Zukunft verbunden mit dem Glauben an Verbesserung, die Verlierer der weltweiten Innovation verlören aber zusehends ihre "Zukunft" und diese damit ihre „Legitimationskraft als Instrument der positiven Strukturierung der Gesellschaft". Die Renaissance "traditioneller, vermeintlich besserer Werte" könne - wie an den an Bedeutung gewinnenden Fundamentalismen abzulesen sei - die Folge sein. 

Neue Gestaltungsmöglichkeiten sowie neue Normierungen und Zwänge macht Elisabeth Beck-Gernsheim in der "individualisierten Gesellschaft" der Moderne aus. Nicht mehr Standeszugehörigkeit, Religion und Tradition, sondern Arbeitsmarkt, Sozialstaat, Bildungssystem, Rechtssprechung usw. seien die Vorgaben, unter denen Menschen heute ihr Leben "selbst herstellen müssen". Dies berge auch Gefahren: die „Bastelbiographie" könne leicht zur „Bruchbiographie" werden und letztlich in der immer perfektionierteren Leistungsgesellschaft münden, die sich u. a. im "Fetisch Gesundheit" und den gentechnischen Optimierungsstrategien bereits andeute.

H. H.

Erwartungen an die Zukunft. Zeithorizonte und Wertewandel in der sozialwissenschaftlichen Diskussion. Hrsg. v. Elke Holst ... Frankfurt/M. (u. e.): Campus, 1994. 273 S. (Sozio-ökonomische Daten und Analysen für die Bundesrepublik; 26), DM 58,- / sFr 53,40/ ÖS 453