14 kritische Essays des Biochemikers Erwin Chargaff

Ausgabe: 1998 | 4

Die Aussichten eines 93-Jährigen aus dem 13. Stock eines New Yorker Mietshauses sind alles andere als rosig. Seit sich Erwin Chargaff, ehemals renommierter Biochemiker, von seinen fortschrittsgläubigen Kollegen mit aller Deutlichkeit distanziert hat, nimmt er sich die Freiheit, den scheinbaren "unendlichen Fortschritt" gründlich zu hinterfragen.

In den hier vorliegenden 14 Essays fordert er resolut "ein weltweites Moratorium für alle nur entfernt schädlichen Tätigkeiten'; zu denen er nicht nur den größten Teil der Technik, sondern auch unsere gegenwärtigen experimentellen Wissenschaften'; insbesondere die Naturforschung zählt (S. 97). Als österreichischer Emigrant mit humanistischer Bildung bringt Chargaff die entsprechende Basis für eine Kritik mit, die sich aber nicht in der üblichen Insiderrhetorik erschöpft, sondern sich um eine ganzheitliche Sicht 1 bemüht. Eine Sicht, die vor allem auch durch die - von den US-Strategen beherrschten - Medien verstellt wird. In seiner "Voreiligen Bilanz des Jahres 1989" nimmt er den leicht manipulierbaren "Mob" aufs Korn - auch am Beispiel der mittel-osteuropäischen Protestbewegungen in Wilna. "Die Demonstranten sind einheimisch, aber die Begeisterung und die Plakate sprechen nur englisch, damit die Amerikaner alles verstehen. Gibt es überhaupt noch eine nicht inszenierte historische Wirklichkeit?" Der hellsichtige Zyniker mutmaßt, daß die Plakate "von den amerikanischen Pressefotografen - das heißt von der CIA - beigesteIlt" (S. 63) wurden und rätselt, woher die Instruktionen der Erzeuger kamen. Um Chargaffs Sozialkritik - vor allem an der (Nicht-)Behandlung vieler Alter und Kranker - zu verstehen, muß man in dem schmalen Bändchen "Armes Amerika - arme Welt" nachschlagen, in dem er eine leidenschaftliche, besorgte Zustandsbeschreibung der USA und Europas liefert. "Stumpf und dumpf und ohne den geringsten Schein einer Hoffnung in den Abgrund der Zukunft" zu stürzen, das kreidet er "unserer Zeit" an. Statt sich aus dem 13. Stock zu stürzen - wie manche seiner Gegner insgeheim hoffen mögen - schreibt er unermüdlich weiter gegen den grassierenden Wahnsinn an und für "das Recht auf Leben':


M. Rei.

Chargaff, Erwin: Die Aussicht vom 13. Stock. Neue Essays. Stuttgart: Klett-Cotta, 1998.275 S., DM / sFr 36,- / ÖS 263,-