Georg W. Bertram, Michael Rüsenberg

Improvisieren

Ausgabe: 2023 | 4
Improvisieren

Improvisieren, das macht man, wenn man anders nicht mehr weiterkommt. Wenn etwas Unerwartetes passiert – wenn der Plan nicht aufgeht, die Lieferung nicht kommt oder in der Küche die entscheidende Zutat fehlt. Das ist die verbreitete Vorstellung von Improvisation: „Improvisieren gilt als Abweichung vom beherrschbaren Normalfall“ (S. 13). Doch das ist ein Missverständnis, kritisieren der Philosophieprofessor Georg W. Bertram und sein Co-Autor, der Jazzpublizist Michael Rüsenberg. Ihr Buch will dieses Missverständnis ausräumen und plädiert für ein neues Selbstverständnis des Menschen als ein zur Improvisation fähiges Wesen. Gegen das verbreitete Missverständnis von Improvisation als ein Sich-irgendwie-Durchwursteln bringen die Autoren drei zentrale Argumente vor. Zum einen kommt Improvisation nicht aus dem Nichts, sondern beruht „auf komplexen Vorbereitungen, auf einem Erwerb besonderer Fähigkeiten“ – Erfahrung, Geistesgegenwart und eintrainiertes Vorgehen (S. 15, 17). Zum anderen ist Improvisation kein regel- oder zielloses Tun, sondern ist stets „in Handlungskontexte eingebunden“ (S. 18f.). Improvisation ist somit nicht Notfallmodus, sondern voraussetzungsvolles Element einer Haltung, „mit der wir uns der Welt und anderen gegenüber öffnen“ (S. 129). Und das dritte zentrale Argument lautet: Improvisation ist kein selbstvergessenes Tun, es passiert zuallermeist nicht aus sich heraus, sondern in Beziehung zur Welt und zu anderen. Mithin zu einer Zukunft, die ungewiss ist. Entscheidend dabei: „Die Ungewissheit geht dem Improvisieren nicht voran, sondern wird in ihm erzeugt“ (S. 124). Was seine Handlung bewirkt, weiß der Improvisierende erst, „wenn die anderen geantwortet haben werden“ (S. 125). Weil sie an Voraussetzungen gebunden und in Kontexte eingebunden ist, hat Improvisation auch keinen definierten Anfang. „Alles Improvisieren knüpft an vorangegangene Improvisationen an“ (S. 127). Die Autoren hinterfragen auch die naheliegende Vorstellung, Improvisieren geschehe im Hier und Jetzt. Das ist zu kurz gedacht, denn das entscheidende Moment liegt in der Zuwendung hin zu einer offenen Zukunft – gerade weil eine improvisierende Person nicht weiß (und auch nicht geplant hat), was als Nächstes folgt, gilt: „Jedes Improvisieren ist eine Eröffnung von Zukunft“ (S. 121). Es setze sich weiteren Reaktionen in der Zukunft aus – und setze diese auch voraus. Die (schöne) Schlussfolgerung: „Improvisieren realisiert Freiheit“ – „und zwar durch die in ihm hergestellte Ungewissheit“ (S. 129).